Das Buch direkt bei Amazon bestellen Bruce Alexander
Von unbekannter Hand

Original: Person or Persons Unknown
btb TB
ISBN 3-442-72704-9

London im 18. Jahrhundert:
Rund um den Convent Garden werden nacheinander mehrere junge Frauen ermordet. Sie alle waren Prostituierte, die in der Gegend ihrem Gewerbe nachgingen.
Ein besonders unerfreulicher Fall für den blinden Richter John Fielding: Während die glücklicheren unter den Opfern mit einem sauberen Stich ins Herz getötet wurden, hat der Mörder andere förmlich ausgeweidet.
Um die Mordfälle ereignen sich makabre Dinge: Ein Witwer kassiert Geld dafür, dass Neugierige den Ort des Geschehens genau in Augenschein nehmen können. Zu allem Überfluss bietet er auch noch Organe seiner Frau als Souvenir feil.
Und es gibt eine ganze Reihe von Verdächtigen: ein junger Soldat, der kurz vor dem Tod des ersten Opfers dessen Dienste in Anspruch nahm; ein jüdischer Dieb und Taugenichts; der Metzger des Viertels, der eines der Opfer auf dem Heimweg "entdeckt".
Sir John und sein Gehilfe Jeremy haben Mühe, das Knäuel der vielen Spuren zu entwirren - noch dazu hat sich Jeremy in eine junge Prostituierte verliebt und glaubt, sie auf den rechten Pfad der Tugend zurückführen zu können.
Doch erst als auch Mariah umgebracht wird, können Jeremy und Sir John das Rätsel der Morde lösen.

 

Gastrezension(en):


Name: Michael Drewniok
Email: Drewniok-PB@gmx.de
Datum: 19.10.2001 (20:50)

London im Jahre 1770: Jeremy Proctor, ein vom Leben nicht verwöhntes Waisenkind, steht nun seit zwei Jahren im Dienste Sir John Fieldings, Richter am Gericht in der Bow Street und Chef der Bow Street Runners, der ersten regulären Polizeitruppe der Stadt. Der Fünfzehnjährige hat ein Glückslos gezogen, denn Fielding ist ein gütiger Mann, der sich darüber hinaus vorgenommen hat, seinem Mündel eine ordentliche Erziehung und Ausbildung angedeihen zu lassen. Mehr noch: Jeremy wird zum Vertrauten des Richters, zu seiner rechten Hand: Sir John Fielding ist blind. Mit seiner Behinderung hat Fielding sich arrangiert. Sein Scharfsinn und seine Energie haben ihn in seine hohe Stellung gebracht, wo er sich eines ausgezeichneten Rufes und eines Ansehens erfreut, das bemerkenswerterweise alle gesellschaftlichen Schichten einschließt. Bahnbrechend sind für die noch junge Polizeibehörde Londons Fieldings ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden. Sammle aufmerksam alle Spuren und Indizien und schließe dann - und nur dann - auf den Hergang eines Verbrechens und womöglich auf den Täter: Das ist die Maxime des blinden Richters, der gern auch persönlich einen Tatort in Augenschein nimmt bzw. nehmen lässt, denn der junge Jeremy ist es, der seinem Mentor Augen und manchmal auch Ohren ersetzt und sich dabei fast unmerklich selbst zu einem gewieften Kriminalisten entwickelt. London ist im ausgehenden 18. Jahrhundert eine Stadt, in der enormer Reichtum und unsägliche Verwahrlosung nebeneinander existieren. Die Armen haben keine Lobby; ein soziales Netz im heutigen Sinne existiert nur in kümmerlichen Anfängen. Ganze Stadtviertel haben sich in elende Slums verwandelt, in die sich selbst die Polizei nach Anbruch der Dunkelheit nur schwer bewaffnet und in Gruppen traut. Grausame Verbrechen sind hier an der Tagesordnung, doch was sich im späten Herbst des Jahres 1770 rund um Convent Garden ereignet, sprengt dennoch den Rahmen des Üblichen: Binnen weniger Tage werden mehrere Prostituierte überfallen, erstochen und zum Teil bestialisch verstümmelt. Von Mord zu Mord steigert sich die Grausamkeit des Täters, der schließlich seine Opfer in ein bizarres Puzzle aus Fleisch, Knochen und Innereien zu verwandeln pflegt. Ratlosigkeit macht sich unter den Bow Street Runners breit, deren kriminalistische "Ausbildung" sich darin erschöpft, Räuber und Einbrecher auf frischer Tat zu ertappen oder Schlägereien unter Zuhilfenahme ihrer Furcht erregenden Schlagstöcke zu beenden. Der Täter schlägt zu und verschwindet spurlos in den verwinkelten Gassen der Slums, wo niemand etwas sieht oder hört oder gar mit der Polizei zusammenarbeitet. Unruhe macht sich in der Bevölkerung breit. Überall meint man den "Ripper" zu sehen; Sündenböcke werden gesucht. Bedrohlich wird die Situation für die stets beargwöhnten Juden des Viertels, zumal skrupellose Journalisten die Situation mit reißerischen Flugblättern anheizen. In diesem Durcheinander bemüht sich Sir John Fielding, einen klaren Kopf zu behalten. Er sammelt die kargen Indizien und hofft, auf diese Weise dem Unhold auf die Spur zu kommen. Aber erst als der Täter unvorsichtig wird, gelingt dies. Doch der Ripper ist nicht nur wahnsinnig, sondern durchaus bei Verstand und fest entschlossen, sich seiner Verfolger zu entledigen - und das im buchstäblichen Sinne, falls nötig ... Wenn ich diesem Beitrag den Titel "Vergesst Anne Perry!" gegeben habe, so ist dies natürlich vor allem als milde Provokation zu verstehen. Für den historischen Kriminalroman bedeutet diese Autorin eine so schreckliche Heimsuchung, dass es jede Gelegenheit zu nutzen gilt, zumindest die abgeschreckte Leserschaft für das Genre zurückzugewinnen. Dabei ist Bruce Alexander im Vergleich mit Anne Perry nicht unbedingt der "bessere" Schriftsteller. Obwohl sichtlich bemüht, durch sorgfältige Recherche das London des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Beschreibung und Atmosphäre wieder aufleben zu lassen, wirkt es an vielen Stellen doch wie die Disneyland-Version einer frühneuzeitlichen Großstadt. Alexander schreibt unterhaltsame Krimis, die in der Vergangenheit angesiedelt sind - keine "große" Literatur. Immer wieder scheint das Gerüst unter der Handlung hervor, was einem wirklich guten Autoren eigentlich nicht unterlaufen dürfte. Die Fielding/Proctor-Reihe setzt Alexander aus bewährten, aber bekannten Elementen zusammen wie Ford oder VW seine Autos: Obwohl sie sich äußerlich mehr oder weniger unterscheiden, stecken unter dem Blech doch immer dieselben Teile. Nichts macht dies deutlicher als Alexanders unseliger Einfall, seine Geschichte an den historischen Jack the Ripper-Morden des Jahres 1888 auszurichten. Er datiert diese klassische Episode der Kriminalgeschichte einfach um 120 Jahre zurück - und kopiert sie anschließend bis ins kleinste Detail. Wer mit den Fakten der wahren Ripper-Morde auch nur oberflächlich vertraut ist, erkennt die Vorlage und ist verstimmt, da der Autor gar zu plump und einfallslos vorgeht. Immerhin kann Alexander in der Figurenzeichnung viel Boden wettmachen. Natürlich ist John Fielding das Substrat unzähliger gescheiter Detektive der Kriminalliteratur, aber das traf bekanntlich schon auf Sherlock Holmes zu. Ansonsten gibt sich der Autor erfolgreich Mühe, echte Charaktere zu schaffen. Alexanders Ausflüge in die Londoner Unterschicht gelingen ihm wesentlich besser als seiner prominenten Kollegin. Wo Anne Perry höchstens mit schwatzhaften/trinkfreudigen/dummschlau-treuherzigen Zerrbildern aufwarten kann, weiß Alexander angenehm deutlich zu machen, dass mangelhafte Bildung und Intelligenzarmut auch vor 1800 nicht zwangsläufig in einem ursächlichen Zusammenhang stehen müssen. Hier können wir uns voll und ganz Alexanders eigenem Urteil anschließen: "I may not be the world's cleverest writer, but I knew a great character when he leaped off the pages at me." Zumindest ist er klug genug, sein Publikum mit besessenen Tiraden über die Schlechtigkeiten vergangener Zeiten und jeglicher historischer Realität enthobenen, nervensägenden Streiterinnen für Freiheit/Gleichheit/Schwesterlichkeit zu verschonen! John Fielding ist übrigens eine historische Gestalt. Ob er im Winter des Jahres 1721 schon blind geboren wurde oder sein Augenlicht erst später verlor, weiß man nicht genau. Aber fest steht, dass Fielding in der Kriminalgeschichte eine prominente Stellung einnimmt, auch wenn er heute meist im Schatten seines als Schriftsteller ungleich berühmteren Halbbruders Henry ("Tom Jones" ist ein unsterblicher Klassiker des Schelmen- und Gesellschaftsromans) zu verschwinden droht. Denn John begann seine Karriere bei der Polizei als Assistent seines Bruders Henry, der ab 1748 als Friedensrichter und später als Ratsherr damit begann, der quasi noch mittelalterlich strukturierten Ordnungsmacht seiner Heimatstadt eine solide Basis und Durchsetzungskraft zu verschaffen. Ab 1750 gemeinsam schufen die Brüder die erste echte Polizeiorganisation überhaupt: die Bow Street Runners. Während es bisher nur Stadtwächter gegeben hatte, die eisern an den ihnen zugewiesenen Orten ihren Dienst versahen, schickten die Fieldings die Runners aus der Polizeizentrale in der Bow Street auf die Straße - daher der Name. Sie "erfanden" auch den Steckbrief, führten - für die damalige Kopf-ab-Mentalität sensationell - eine Kronzeugenregelung für überführte Verbrecher ein und machten sich für eine Liberalisierung der Gesetze für jugendliche Straftäter stark. Als Henry Fielding 1754 starb, rückte John an seine Stelle und setzte das begonnene Werk trotz seiner Behinderung mit Erfolg fort. 1761 wurde er geadelt; zwanzig Jahre später starb er. Unter seinem Spitznamen "The Blind Beak" war er da längst zu einer legendären Gestalt geworden. Alexander (dessen eigentlicher Vorname Bruce lautet) Cook ist als Autor von Kriminalromanen wahrlich kein Neuling mehr. Der 1932 geborene Journalist, Kritiker und Schriftsteller verzeichnete einen bescheidenen Erfolg bereits mit seiner Serie um den südkalifornischen Privatdetektiv Chico Cervantes. Doch erst die örtlich und zeitlich denkbar weit von seiner Heimatstadt Los Angeles entfernt angesiedelten Romane um Sir John Fielding brachten Alexander 1994 den endgültigen Durchbruch und auf die amerikanischen Bestsellerlisten. Sehr weit oben hat man ihn dort indes wohl nicht finden können, denn selbst dem unerfahrenen Leser müssten eigentlich (sogar in den USA) die weiter oben beschriebenen Mängel schnell auffallen; allerdings ist dies womöglich eine gar zu europäische Sicht der Dinge auf ein Land, das es für nötig hielt, sich eine eigene Miss Marple zu schnitzen und diese unter dem Motto "Mord ist ihr Hobby" auf die entsetzten Fernsehzuschauer diesseits der Großen Teiches loszulassen ... Die Sir John Fielding/Jeremy Proctor-Serie: 01. Hinter geschlossenen Türen (Blind Justice; 1994) 02. Die zweite Wahrheit (Murder in Grub Street; 1995) 03. Der Zorn des Gerechten (Watery Grave; 1996) 04. Von unbekannter Hand (Person or Persons Unknown, 1997) 05. Das letzte Konzert (Jack, Knave and Fool; 1998) 06. Death of a Colonial (1999) - noch nicht in Deutschland erschienen 07. The Color of Death ( 2000) - noch nicht in Deutschland erschienen Originaltitel: Person or Persons Unknown (New York : G. P. Putnams Sons 1997) Deutsche Erstveröffentlichung: btb/Wilhelm Goldmann Verlag (TB Nr. 72704); Dezember 2000 Übersetzung: Elke vom Scheidt 415 Seiten DM 18,00 ISBN 3-442-72704-0