Das Buch direkt bei Amazon bestellen Kathy Reichs Klaus Berr
Lasst Knochen sprechen

Original: Deadly Décisions
(3. Band)
Deutsch von Klaus Berr
Blessing gebunden
ISBN 3-89667-157-X

Ein heißer Sommer in Montreal.
Nach einem Überfall auf offener Straße, bei dem auch ein kleines Mädchen zu Tode kam, dreht sich im Bandenkrieg zwischen den Heathens und den Vipers, zwei konkurrierenden Motorradgangs, die Schraube der Gewalt immer weiter.
Zwei Mitglieder der Heathens haben sich mit einer selbst gebastelten Bombe auf das Clubgelände ihrer Erzfeinde geschlichen, wurden aber erwischt, erschossen und von ihrer eigenen Sprengladung in Kleinstteile zerfetzt.
Die forensische Anthropologin Tempe Brennan soll die Opfer identifizieren und bekommt im wahrsten Sinne des Wortes alle Hände voll zu tun, den die schwergewichtigen Brüder waren eineiige Zwillinge.
Doch am Tatort wartet noch eine weitere Überraschung auf sie. Im Garten des Clubs liegen zwei skelettierte Leichen - und daneben der Schädel und die Oberschenkelknochen eines jungen Mädchens.
Bei näherer Untersuchung entdeckt Tempe ein seltsames Detail an dem Schädel: ein kleines Bohrloch, das darauf schließen lässt, dass das Mädchen einen Hydrozephalus, einen Wasserkopf, hatte.
Alles andere also als die übliche Rockerbraut - wie kam ein solches Mädchen in Kontakt mit den harten Jungs der Gang?
Und wo ist das übrige Skelett?
Kein leichter Fall für Tempe, zumal es nicht nur für sie brenzlig wird. Auch ihr Neffe Kit, der ein verhängnisvolles Faible für Motorräder hat und in den Dunstkreis der Biker gerät, ist in großer Gefahr ...

Rezension:
Spätestens seit "Quincy" und "Kay Scarpetta" ist die Welt der Gerichtsmediziner ein beliebter Krimi-Schauplatz und für viele Leser vertrautes Terrain.
Eine neue Farbe verdankt das Genre nun in den letzten Jahren der gebürtigen Amerikanerin Kathy Reichs, die ihre eigene Arbeit der forensischen Anthropologie als Vorbild genommen hat für ihre Heldin Temperance, genannt "Tempe" Brennan.
Wie ihre Schöpferin ist diese sowohl in den USA als auch in Kanada als "Knochenexpertin" im gerichtsmedizinischen Institut und als Universitäts-Dozentin aktiv.
Was zunächst eher trocken anmutet, die Ausgrabung und Analyse nämlich von Skelettfragmenten, Knochenpartikeln und auch schon mal (etwa bei verbrannten Körpern) Knochenmehl, wird in Verbindung mit einer temporeichen Handlung und reichlich zwischenmenschlichen Komplikationen zu einem fesselnden Potpourri, das eine Unterbrechung der Lektüre nahezu unmöglich macht.
Wie schon in den beiden Bänden zuvor, spielt auch die persönliche Gefühlslage der Enddreissigerin Tempe eine nicht unwesentliche Rolle, was die Protagonistin wiederum vor allem für ihre weiblichen Fans zu einer Identifikationsfigur werden läßt.
Denn haben wir nicht alle zuweilen unter bornierten männlichen Kollegen zu leiden, Liebhabern, an deren Charakter es urplötzlich zu zweifeln gilt, aufdringlichen Verehrern und nicht zuletzt der "buckligen" Verwandtschaft?
Und mußten auch wir uns nicht hin und wieder dabei ertappen, vorschnell ge- und verurteilt zu haben?
Das macht Tempe so menschlich, ohne ihr jedoch die Helden-Patina zu nehmen, wenn sie sich - durchaus der Gefahr bewußt - in die "Höhle des Löwen" begibt, um ihre Ermittlungen fortzusetzen oder eine ihr nahestehende Person vor dem Schlimmsten zu bewahren.
Absolut nicht unspannend auch, was der Leser über die in Europa ebenfalls längst berüchtigten Motorrad-Banden wie "Hells Angels" und Konsorten erfährt.
Über ihre streng hierarchische Organisation (mit Präsident, Vize, Schatzmeister, Spieß = zuständig für Ordnung und Frieden, Road Captain = für Ralleys verantwortlich, einfache Mitglieder und zuweilen sogar "Sicherheitsoffiziere" = Sammler von Informationen über rivalisierende Banden, Reporter, Richter, Anwälte, Zeugen und natürlich ermittelnde Polizeibeamte) innerhalb der einzelnen Ortsgruppen.
Über ihren "Kodex", der zwar wenig mit Ehre, aber umso mehr mit bandenkonformen Verhaltensnormen zu tun hat (etwa Drogen nur zum Handel, nicht aber zum Gebrauch zu benutzen, da der Junkie an sich unberechenbar ist und nicht selten die Geschäfte vermasselt.
Und natürlich über die Art und Weise, in der sie sich mit anderen Banden auseinandersetzen - nämlich im Zweifelsfall immer nach dem Prinzip "Auge um Auge"... und je gewalttätiger, desto besser ...
Als "kleines Extra" für besonders eifrige Krimileser sei auch der ausführliche Exkurs ins Gebiet der Blutspritzer-Analyse erwähnt. Wer hier nicht auf knapp 10 Seiten mehr lernt als in den Grundkursen Physik, Mathematik und Biologie zusammengenommen, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen.
Alles in allem ein spannender Roman, der zudem noch so informativ ist, das man ihn fast als "Fachbuch" bezeichnen möchte und sich kein bißchen wundert, warum er wochenlang auf amerikanischen und englischen Bestsellerlisten zu finden war. Die "offenen Enden" einiger Handlungsstränge tun ein übriges, um den nächsten Band der Serie mit Spannung zu erwarten. Sehr lesenswert!

Miss Sophie

***

Das ist nichts für sensible Gemüter, wenn Tempe Brannen die Einzelteile der beiden von einer Bombe zerfetzten Rocker sortiert: "Das größte Stück, das übrig geblieben war, wog gerade mal zehn Pfund!". Aber wer die forensische Anthropologin schon in "Knochenarbeit" und "Tote lügen nicht" kennen gelernt hat, erwartet auch nichts anderes.
Kathy Reichs' hastiger Protokollstil lässt keinen Hautfetzen und keinen Spritzer Gehirn aus; akribisch werden Gewebeschnitte analysiert und Knochen sortiert und zwischendurch auch mal eine Tiefkühlpizza gegessen.
Wussten Sie, was ein ventrikulo-peritonealer Shunt ist?
Nein?
Okay, Tempe Brennan erklärt es Ihnen, denn sie weiß, wie man die Fangemeinde des Pathologie-Thrillers abholt: direkt am Seziertisch.
Diesmal geht es ums Milieu der kriminellen Motorradgangs, die als Kernzellen des organisierten Verbrechens in den USA und Kanada agieren und sich bei ihren Revierkämpfen nichts schenken.
Was es dazu an Wissenswertem gibt, fließt ganz schmucklos in Form von Vorträgen in den Roman ein ("Er war ein Experte!"), so dass es dann doch noch der beiden beiläufig ermordeten Mädchen bedarf, um Tempe Brennans überaus starkes persönliches Engagement zu motivieren, die ineinander verschlungenen Fälle aufzuklären.
Eingebettet ist die Story auch diesmal wieder in das übergreifende private Szenario, das Reichs für ihre Protagonistin entworfen hat: Tempe Brennan das Arbeitstier in ihrem ständigen Kleinkrieg mit Detective Claudel, ihrem Widersacher bei der Mordkommission. Ihre im letzten Roman begonnene Affäre mit Detective Ryan erfährt eine dramatische Wende (der wir freilich, genau wie Brennan, von Anfang nicht trauen) und wo zuletzt ihre Tochter Kathy fürs Fachwissen in Sachen Computertechnik gesorgt hat, ist es diesmal ihr Neffe Kit, der ihr hilft, eine Harley von einer BMW zu unterscheiden.
Selbstverständlich - da sind Kathy Reichs plots so zuverlässig wie eine DNS-Analyse - gerät Kit dann am Ende in eine tödliche Gefahr, und selbstverständlich ist der Kerl, den wir (und Tempe) von Anfang nicht haben ausstehen können, der ultimative Bösewicht.
Aber selbst wenn sich die plots von Kathy Reichs gleichen wie ein Zellkern dem anderen - so zeichnen ihre Romane doch ein lebendiges Portrait von Polizei- und Pathologenarbeit und transportieren ganz nebenbei die Glücksbotschaft für uns workaholics: Arbeit macht doch glücklich.
(Und was den ventrikulo-peritonealenShunt angeht: Seien Sie froh, dass Sie keinen brauchen!)

Reinhard Jahn