Das Buch direkt bei Amazon bestellen Petra Hammesfahr
Die Mutter

Rowohlt TB
ISBN 3-499-22992-7

Vera Zardiss führt ein glückliches Leben. Mit ihrem Mann Jürgen, der eine gut gehende Arztpraxis unterhält, ist sie vor Jahren in eine ländliche Gegend gezogen. Auf einem ehemaligen Bauernhof wohnen die beiden mit den Töchtern Anne und Rena, im selben Haus leben Veras Eltern.
Anne hat einen netten Freund, mit dem sie viel unternimmt, die Pferdenärrin Rena verbringt ihre Nachmittage im Reitstall.
Die heile Welt gerät ins Wanken, als Rena kurz nach ihrem 16. Geburtstag plötzlich verschwindet: An einem stürmischen, regnerischen Tag kehrt sie nicht wie gewohnt zum Abendessen zurück. Eine nächtliche Suchaktion verläuft ergebnislos.
Renas Fahrrad wird in der Nähe des Bahnhofs gefunden.
Jemand will beobachtet haben, wie sie in einen Kleinbus einstieg .- doch niemand weiß etwas Genaues.

Rezension:
Zuerst ist es nur die Ungewissheit, die Vera Zardiss in den Regennacht treibt, um ihre Tochter Rena zu suchen. Schließlich kann es schon einmal vorkommen, dass eine 16-jährige nicht zum Abendessen heimkommt. Dann ist es plötzlich Angst - schleichende, quälende Angst, die die Mutter bei ihrer Suchfahrt durch die verregnete Gegend beschleicht: beim Pferdehof wurde Rena noch gesehen, dann verliert sich ihre Spur.
Das geruhsame Eifel-Örtchen ist plötzlich keine Idylle mehr, Veras heile Familienwelt bekommt Risse.
Vera erzählt ihre Geschichte selbst, ihre Angst springt unmittelbar aus jeder Zeile - ihre Ungewissheit, während sie auf eine Nachricht von ihrer Tochter wartet, dann die zunächst ungesagten, dann immer deutlicher ausgesprochenen Differenzen mit ihrer Mutter und ihrem Mann. Eine Familie zerbricht unter dem Druck der Angst, unter der Last der zahllosen kleinen Lügen, aus denen man sich seine heile Welt zusammengebastelt hat.
Nach der Angst kommt der Schrecken: ein bestialisch niedergemetzeltes Pferd und grauenhafte Schockanrufe öffnen den Raum für die schlimmsten Fantasien - ist Rena einem Mörder in die Hände gefallen, was ist mit ihr geschehen?
Die Polizei ist routiniert, aber hilflos, Vera und ihr Mann verzweifeln.
Petra Hammesfahr erspart dem Leser in ihrer Geschichte der Mutter Vera nichts - verfolgt schonungslos die kleinsten Spuren der verschwundenen Tochter, um am Ende doch jede aufkeimende Hoffnung auf ein glückliches Ende wieder zu zerstören.
Denn Glück, das wird Vera und auch uns nach und nach klar, wird es nie wieder geben, schlimmer noch: hat es nie gegeben. Das Familienidyll der Geburtstagsfeier, mit der Petra Hammesfahr den Roman beginnt: nichts weiter als die dünne Oberfläche, der Schein als Sein. Veras Ehe mit dem stoffeligen Gynäkologen Jürgen - längst eine Beziehung ohne Liebe. Ihr liebevolles Verhältnis zu ihrem Vater - überschattet von dem Wissen, dass er ein Nazi-Verbrecher ist, dauernd eifersüchtig von der Mutter torpediert, die die Familie mit ihrer gnadenlosen Routine von Kochen und Fensterputzen terrorisiert.
Und was hat Vera wirklich von Rena gewusst - ein Blick in die Tagebücher ihrer Tochter zeigen ihr: kaum etwas.
Veras schrecklichster Verdacht: ist Rena vielleicht gar nicht einem Verbrechen um Opfer gefallen, sondern hat sie sich selbst davongemacht aus dem Dorf- und Familiengefängnis, um mit ihrer Freundin Nita ein neues Leben anzufangen?
Der Mutter Vera bleibt nichts erspart, und "Die Mutter" erspart uns nichts - der Roman ist eine mörderische tour de force durch die hohlen Lebensentwürfe des Mittelstands, faszinierend schmucklos und zugleich stilsicher erzählt, durchsetzt mit Veras zahllosen Wahrnehmungsbrüchen, die in jedem anderen Zusammenhang wie schlechte dramaturgische Tricks wirken würden.
Nicht so bei Petra Hammesfahr, die souverän zwischen Andeutungen und grellen Effekten pendelt, um uns darauf vorzubereiten, dass es hier keine glatte Krimi-Lösung geben wird, kein erleichtertes Aufatmen und noch nicht einmal ein zufriedenes Zurücklehnen in der Gewissheit, dass die Geschichte jetzt ein Ende hat.

Reinhard Jahn