Das Buch direkt bei Amazon bestellen John Grisham
Der Richter

Original: The Summons
Heyne gebunden
ISBN 3-453-21506-0

Eigentlich hat Ray Atlee, Juraprofessor an der University of Virginia, mit seiner Vergangenheit in Clanton, Mississippi, längst abgeschlossen. Der 43-jährige hegt keine guten Erinnerungen an seine Kindheit in dem kleinen Ort, wo er gemeinsam mit seinem Bruder Forrest unter der harten Hand seines Vaters aufwuchs, den auch die beiden Jungen nur "Judge" nannten.
Ray versucht gerade seine überstürzte Scheidung zu verarbeiten, als die Erinnerung an Clanton auf einmal wiedererweckt wird: mit einer Vorladung - einer Vorladung zu seinem Vater.
Ihm und seinem Bruder Forrest, dem schwarzen Schaf der Familie, der früh auf die schiefe Bahn geriet, steht eine unangenehme Reise in die Vergangenheit bevor: Auf Datum und Uhrzeit genau hat der Vater, allen noch immer als "Richter Atlee" bekannt, seine Söhne geladen, um mit ihnen sein Erbe zu regeln.
Vierzig Jahre lang hatte er als beliebter und einflussreicher Staatsbeamter das Rechtswesen und die Politik der Gegend geprägt, und darüberhinaus Bedürftigen geholfen.
Nun aber findet Ray seinen Vater tot auf, als er pünktlich zum Termin eintrifft. Rays schlimmste Befürchtungen, dass sein Vater keines natürlichen Todes gestorben ist, werden wahr, als er in dessen Büroschränken drei Millionen Dollar entdeckt.
Dieses Geld, das er vor Forrest versteckt, bis er weitere Erkenntnisse über seine Herkunft hat, und für das sein Vater offensichtlich ums Leben gebracht wurde, wird nun auch für Ray eine Quelle der Angst. Er kommt nach und nach hinter ein furchtbares Geheimnis, das außer ihm offensichtlich auch noch jemand anderer kennt...

Rezension:
Klar, dass die Grisham-Junkies in den amazon-Rezensionen einhellig aufheulen mussten, als ihnen "Der Richter" unter die Augen kam. Böse Vermutung: der Meister hätte das Büchlein runtergeschrieben, weil er einen Vertrag erfüllen musste. Bitterer Vorwurf: alles sei so langweilig. Scharfe Anklage: Was erlaubt sich der Meister mit seinen treuen Fans?
Ganz einfach: Der Meister erlaubt sich, eine ganz einfache Geschichte zu erzählen. Das sieht man nicht nur daran, dass "Der Richter" gut ein Drittel kürzer ist als der übliche Grisham-Brocken. Das spürt man auch am gelassenen Ton, in dem Grisham über Ray Atlee, den unauffälligen Jura-Professor und dessen Vater, den alten Richter plaudert. Keine scharfen Duelle im Gerichtssaal, sondern lange Fahrten übers Land, lange Familiengeschichten über den ehrenwerten Richter, seine kleine Stadt und seine Art, Recht zu sprechen.
Als Ray neben seinem toten Vater mehr als drei Millionen Dollar in gebrauchten Hunderten findet, weiß er, dass etwas mit dem Richter nicht gestimmt haben muss. Als Ray beschließt, sich das Geld unter den Nagel zu reißen, ahnt er vielleicht, dass er sich damit in Schwierigkeiten bringt, er ahnt nicht, wie groß sie sein werden. Schwierigkeiten weniger mit Forrest, seinem heruntergekommenen Bruder, der alles säuft und spritzt, was irgendwie bedröhnt, sondern mit sich selbst.
Ray hat sich eingerichtet in seinem langweiligen Leben, so sehr, dass ihm sogar die Träume abhanden gekommen sind. Der typische Forty-something mit einer Ex-Frau, einem offenen Sportwagen und einer Wohnung, in der nicht mal eine Katze auf ihn wartet. Die Ausflüge als Sportflieger sind da nur kleine Fluchten - und die auch nur bei schönem Wetter. So einer kann gar nichts mit drei Millionen anfangen - das wird schnell klar. Also fährt Ray mit dem Geld in drei Müllsäcken im Kofferraum durch die Gegend, versteckt es mal hier und mal da und merkt nicht, dass er nur wie ein Hamster um Laufrad bewegt.
Soweit, so gut - ein bisschen Krimi kommt auch noch ins Spiel: die Anzeichen, dass jemand hinter dem Geld her ist, häufen sich und schließlich erfährt Ray auch, woher die Millionen stammen: in einem zynischen Monolog klärt ein Spezialist in Sachen Produkthaftung Ray auf, dass das Geld nur ein bescheidenes Zeichen seiner Dankbarkeit für ein bestimmtes Urteil des alten Richters gewesen sind.
Und wahrscheinlich weil Grisham geahnt hat, dass ihm seine hartgesottenen Fans diese so unaufgeregte, aber sauber und sympathisch erzählte Geschichte übel nehmen würden, folgt ein showdown bei Nacht und Nebel, ein bisschen schematische action, die dem Roman ein Ungleichgewicht gibt: es gibt eben keinen echten Grisham im falschen.
Dass es auch bessere Bücher über Lebenskrisen und den amerikanischen Mittelstand gibt, ist klar. Und vielleicht schreibt Grisham auch später einmal eines davon. Bis dahin ist "Der Richter" ein gutes Zeichen.

Reinhard Jahn