Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jennifer Egan
Look at me

Original: Look at me
Schöffling gebunden
ISBN 3-89561-222-7

Achtzig Titanschrauben halten das Gesicht des Models Charlotte Swenson nach einem schweren Autounfall zusammen. Nichts erinnert mehr an ihr früheres Aussehen.
Als sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt wieder zurückkehrt in ihr Appartement im 25. Stock ist sie wie eine Fremde in New York, jener Stadt, die ihr früher die Welt bedeutete.

Rezension:
Was hat der 11. September mit einem Model zu tun, deren Gesicht bei einem Autounfall zerstört wird? Stünde es nicht im Klappentext, würde der Leser auf den ersten hundert Seiten keinen Zusammenhang spüren.
Gefesselt von der spannenden Lebensgeschichte des Fotomodells Charlotte wird man auf magische Art in das über 500 Seiten starke Buch hineingezogen. Eine schnelle, flapsige, aber auch sehr poetische Sprache, mit vielen ungewöhnlichen Metaphern lässt den Leser mit der Ich-Erzählerin fühlen, die mit ihrem mit 80 Titanschrauben zusammengeflicktem Gesicht, wieder als Model arbeiten will.
Ein "Schläfer" breitet sich nach dem grandiosen Anfangskapitel aus, im wahrsten Sinne des Wortes, die Geschichte plätschert so dahin und erwacht erst wieder, als der geheimnisvolle "Z" Gestalt annimmt.
Die Tochter von Charlottes Jugendfreundin, die ebenfalls Charlotte heißt, ist die zweite starke Hauptfigur. Das Mädchen verliebt sich in "Z", alias Mathelehrer Michael, der akzentfrei englisch spricht, dank seiner ganz eigenen Methoden.
Wie kann sich eine Schriftstellerin das vor dem 11. September ausgedacht haben? Waren die "Schläfer" und ihre Vorgehensweisen schon vorher in Amerika bekannt?
Ein Privatdetektiv, eine Journalistin, ein leukämiekranker Junge, alles hängt zusammen. Auf ungewöhnliche, manchmal absurde Art und Weise.
Endlich hat die Model-Charlotte einen Fototermin. Anfangs scheint es ein gewöhnliches Shooting zu sein, doch dann, streift sich der Maskenbildner Latexhandschuhe über und schwingt die Rasierklinge. Model-Kollegin Daphne erklärt: S. 190 "Es gibt keine Narben", sagte sie. " Wenn du sie in Ruhe lässt, sind sie in der Regel nach einer Woche verheilt. Als er mich zuletzt geschnitten hat, hab ich in derselben Woche zwei Jobs gehabt. Die Leute wollten den Schorf sehen."
Als einzige Chance beginnt sie ihre Geschichte in einer Internetagentur zu vermarkten, die "Big Brother"-mäßig "Normale" und "Außergewöhnliche", wie sie, per Mausklick für jeden Surfer mit ihren Lebensgeschichten unterhält. S.337: "Das ist doch das genaue Gegenteil von dem, was Orwell beschrieben hat. Bei ihm wurden die Leute von einer totalitären Regierung bespitzelt - sie hatten keine Wahl und keine Freiheit. Aber bei uns ist das nicht nur hundert Prozent freiwillig, sondern es dreht sich dazu noch um Freiheit - um die Freiheit, deine Erfahrungen mitzuteilen. Die Freiheit, zu erfahren, wie andere Menschen leben. Wenn du mich fragst, dann ist das die endgültige Form von Demokratie."
Was hat "Z" vor und wann zeigt er sein "wahres" Gesicht, hat er überhaupt eines? Alles hängt zusammen und endet da, wo es begonnen hat.
Nur der Schluss schmeckt gar zu sehr nach amerikanischem "Creative Writing", alle Hauptfiguren müssen beim Finale auftreten.
Fazit: Ein großer Roman um Identität, der mit seinem vielschichtigen Sprachteppich noch lange im Gedächtnis bleibt, hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs!

K. Ara