Das Buch direkt bei Amazon bestellen Anne Perry
Die Verschwörung von Whitechapel

Original: The Whitechapel Conspiracy
(21. Band)
Heyne gebunden
ISBN 3-453-86485-9

1892:
Obwohl das Motiv unklar ist, führt eine Zeugenaussage von Oberinspektor Pitt dazu, dass der angesehene und ehrwürdige Offizier John Adinett für den Mord an einem Freund zum Tod verurteilt wird.
Statt Anerkennung für seine Beweisführung erhält Pitt überraschend die Mitteilung, dass er seiner Funktion als Oberinspektor enthoben ist und auf unbestimmte Zeit zu einer Sondereinheit ins Londoner East End strafversetzt wird.
Doch was ist der Grund für diese sonderbare Degradierung Pitts? Und wer oder was steckt dahinter? Ist es wirklich der berüchtigte "Innere Kreis", ein geheimes Bündnis von politisch einflussreichen Männern, die sich für die Verurteilung ihres Mitglieds Adientt rächen wollen?
Entschlossen, die Versetzung ihres Mannes nicht hinzunehmen, begibt sich Pitts Ehefrau Charlotte eigenmächtig auf die Suche nach Adinetts Mordmotiv, hält sie dies doch für den Schlüssel zur Klärung aller mysteriösen Vorgänge.

Rezension:
Wer sagt denn, dass nur Grisham und Konsorten Meister des Gerichtsdramas sind? In der ebenso spannenden wie unvorhersehbaren Auftaktsequenz Ihres aktuellen Romans beweist Anne Perry dass die Kreuzverhöre des viktorianischen Zeitalters (zumindest nach ihrer Auffassung und Darstellung) heutigen "Spezialbehandlungen" von Zeugen durch Staatsanwalt und/oder Verteidiger in nichts nachstanden.
Und während mit dieser Verhandlung der Nährboden gelegt wird für die nachfolgenden Ereignisse darf sich der Leser schon einmal gedanklich darauf einstellen, dass es diesmal ausgesprochen hart werden wird für Oberinspektor Pitt, den Helden ohne Furcht und Tadel - allerdings leider auch ohne den passenden gesellschaftlichen und vor allem politischen Background, um der Willkür seiner Vorgesetzten (und deren Chefs) zu entkommen ...
Darum gehen sie diesmal großteils getrennte Wege, die Eheleute Thomas und Charlotte, die sich seit 1979 nun schon zum einundzwanzigsten Mal auf die Suche nach dem "wahren Schuldigen" machen (über den es hier zur Abwechslung keine Zweifel gibt - was die Sache aber insgesamt nicht weniger mysteriös macht). Pitt wird zum Undercover Agent und seine liebende Ehefrau tut das, was sie am besten kann: Sich das Vertrauen der Verwandten eines Tatbeteiligten erwerben und von dieser Seite aus die Fäden aufrollen.
Mit von der Partie sind - in überaus aktiven Rollen - auch wieder Wachtmeister Tellmann (von dem wir endlich erfahren, dass auch er einen Vornamen besitzt, nämlich Samuel) und Gracie, das Hausmädchen. Dass die zarten Bande zwischen den beiden, die sich schon durch einige Bände ziehen, diesmal viel Raum einnehmen, wird all jene Leserinnen sehr erfreuen, die sich einen "echten Perry" ohne romantische Verstrickungen gar nicht vorstellen können.
Von diesen gibt es im übrigen von ganz unerwarteter Seite noch eine gewaltige Portion, indem nämlich Tante Vespasias lebendig gewordene Vergangenheit in Erscheinung tritt. Diese Gelegenheit nutzt Autorin Perry, um mit eindringlichen Worten die Atmosphäre der 1848er Bewegung überall in Europa so plastisch zu machen, dass auch der geschichtlich unbeleckte Leser einen Eindruck und ein Gefühl für die Ereignisse jener Zeit bekommt.
Geschickt mit der zuweilen außerordentlich verwirrenden, am Ende aber natürlich vollkommen logischen Handlung verknüpft, liegt das Hauptgewicht des Romans mehr auf dem politischen als gesellschaftlichen Klima jener Tage. Obschon das eine natürlich untrennbar mit dem anderen verbunden ist, da wo es um unzumutbare Lebensbedingungen und unterschwellige Strömungen im Volk geht.
Protagonist Pitt, soviel ist zum Glück von Anfang an gewiss, kann sich aus seiner misslichen Lage befreien und am Schluss in den Schoß seiner liebenden Familie zurückkehren - doch ein "Happy End" gibt es dennoch nicht. Schon eher den schalen Geschmack eines temporären Sieges unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Chancen aufrichtiger Menschen, sich mit ihren Anschauungen und Idealen gegen die Macht derer "von dort oben" zu behaupten, gegen Null gehen.
Fazit: Der Roman bietet solide Unterhaltung mit einem gewaltigen Schuss Sozialkritik und einem intensiven Blick auf die Verhältnisse des viktorianischen Englands.

Miss Sophie