Das Buch direkt bei Amazon bestellen Barbara Vine
Heuschrecken

Original: Grasshopper
Diogenes TB
ISBN 3-257-23346-9

›Die Leute mögen sagen, was sie wollen, aber wir waren nun mal früher nicht jemand anders, wir haben nicht in einem anderen Leben oder einer anderen Welt gelebt, das ist nur ein Vorwand, ein Versuch, Sachen schönzureden, die wir angestellt haben, weil wir uns seit damals natürlich bis zur Unkenntlichkeit verändert haben und angeblich nicht mehr derselbe Mensch sind - was eben nicht stimmt: Wir sind wir. Das Mädchen, das auf Hochspannungsmaste stieg, und das Mädchen, das auf Dächern herumkletterte, bin ich, und ohne sie, ihr Tun und ihre Vergehen, wenn man so will, wäre ich nicht die Frau, die ich heute bin‹, schreibt Clodagh in ihr Tagebuch, um Ordnung in ihre Vergangenheit zu bringen.
Clodagh Brown, wohnhaft in einem eleganten Hochhaus mit Dachgarten im nördlichen London, ist eine der wenigen weiblichen Elektrikerinnen. Und es hat seine Gründe, warum sie zu diesem Beruf gekommen ist: Einer jener Hochspannungsmaste, die sie und ihr Freund Heuschrecken tauften, wurde ihrer Jugendliebe zum Verhängnis.
Nach dem Unglück ist Clodagh ins Bodenlose gestürzt. Doch sie flüchtet sich abermals in die Höhe. Mit Gleichaltrigen, die ebensoviel mit sich herumtragen wie sie selbst, klettert sie über die Dächer von London ... Gestern noch als kriminell verteufelt, ist Clodagh heute etabliert.

Rezension:
Clodagh leidet seit ihrer Kindheit an Klaustrophobie - wobei sie keine Angst vor engen Räumen an sich hat, sondern vor allem, was unter der Erde ist: U-Bahn, Tunnel und Keller bereiten ihr Todesängste. Folgerichtig orientiert sie sich nach oben - sie beginnt als Jugendliche, Hochspannungsmasten zu besteigen, bis dies ihren Jugendfreund das Leben kostet.
Ihre Eltern schicken sie zu Verwandten nach London, wo sie in einer Souterrain-Wohnung leben muss, was sie kaum erträgt. Wieder findet sie einen Ausgleich - die Dächer von London. Mit einer Gruppe anderer junger Leute entdeckt und erobert sie diese neue Landschaft. Als sie einem unglücklichen Paar helfen wollen, außer Landes zu gehen, muss Clodagh immer tiefere Einsichten in das Seelenleben anderer Menschen ertragen - bis hin zu reiner Bosheit.
Dieses Buch ist kein Kriminalroman im klassischen Sinne. Es ist ein Entwicklungsroman, ein mit spitzer Feder geschriebenes Soziogramm einer Gruppe von Menschen, die auf verschiedene Weisen miteinander verbunden sind und deren Zusammenleben am Ende in einer grausamen Tat kulminiert.
Tiefschichtig, humorvoll, spannend zu lesen und mit vor allem zum Ende hin immer neuen, unerwarteten Wendungen. Sehr empfehlenswert für alle, die nicht nur am Krimi in seiner reinen Form interessiert sind.

June