Das Buch direkt bei Amazon bestellen Monika Detering
Herzfresser

Gipfelbuch TB
ISBN 3-937591-27-3

Als sie noch Marie hieß, hatte sie Angst und düstere Träume. Als Madena reist sie in die Stadt ihrer Kindheit. Für einen Tag im Mai, der so riecht wie damals. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit führen sie die Düfte zurück und alles ist da:
Wieder balanciert sie auf dem Schuldach, wieder kommt Vater: »Wir machen uns einen schönen Tag!« Und nichts fürchtet sie mehr als die(se) schönen Tage.
Auch der ganz normale Alltag jener 50er und 60er Jahre taucht auf, Milchbars, James Dean und erste Küsse, der Geruch nach Imi und Linsensuppe, das sonntägliche Hochamt und Mutters: »Der liebe Gott sieht alles!«
Früh wird ihr das Schweigen eingeimpft, »sonst kommst du in die Hölle, und Hölle ist ewig«.
Um Händen und geflüsterten Drohungen zu entfliehen, träumt sie von ‚Sansibar‘, ihrem imaginären Ort der Freiheit. Marie zieht sich in innere Welten zurück, um zu funktionieren.

Rezension:
Kein Krimi im üblichen Sinn – aber ein Buch über das Verbrechen an einer Kinderseele, für das das Opfer sein ganzes weiteres Leben büßen muss Â…
Maries Kindheit im Nachkriegsdeutschland, das heißt: Wohnen in einer geteilten Ex-Patrizierwohnung - ein Zimmer, Flur, Küche, Klo auf der halben Treppe, das Bad in der anderen Richtung, zu teilen mit zwei weiteren Parteien.
Das Geld ist knappt. die Mutter schuftet von Montag bis Samstag im Büro, der Vater hat eine neue Familie, lässt sich nur noch zu sporadischen Besuchen sehen, die ältere Schwester hat ständig wechselnde Freunde, um dem trostlosen Alltag zu entgehen.
Marie ist ein wildes Kind: Spielt zwischen den Ruinen der zerbombten Häuser, balanciert auf dem Dachfirst der Schule, büxt beim Stubenarrest durchs Fenster aus, äfft den Lehrer nach und lässt sich selbst bei Bestrafungen mit dem Rohrstock auf die Hände nicht dabei ertappen, dass sie weint.
Und gleichzeitig ist sie innerlich erstarrt, abgekoppelt von dem Entsetzen und dem Schmerz und dem Nicht-Verstehen, wie es sein kann, dass die Menschen, die sie doch lieben möchte, weil sie das ausmachen, was als Heiligstes gilt, die Familie nämlich, ihr etwas zufügen, das sie niemandem sagen kann, sagen darf, da ihr sonst die ewige Verdammnis sicher wäre.
So erlebt das Mädchen, „das nicht weiß, dass man NEIN sagen kann!“ denn ihre Kindheit, Teenagerzeit und all die Jahre, die danach kommen, immer wieder wie in Trance, hat große Gedächtnislücken, die ihr keiner glaubt, verletzt sich selbst, um zu fühlen, dass da noch etwas da ist, in ihrem Panzer aus erstarrten Hoffnungen, Träumen, Vorstellungen von Liebe, Geborgenheit und Vertrauen Â…
Und der Leser ist immer dabei: Wenn die kleine Marie sich gegen kratzige Wollstrümpfe auflehnt, der Mutter Geld klaut, um sich einen Parka und Jeans zu kaufen, die sie dann wieder zurückbringen und gegen „vernünftige“ Kleidung umtauschen muss, vor allem aber dann, wenn wieder einmal die Hoffnung aufflackert, jemand könnte das zutiefst traumatisierte Kind und später dann das Mädchen und die junge Frau aus ihrem Elend retten.
Doch da kommt keiner – im Gegenteil: Was positiv anmutet und verheißungsvoll scheint, mündet früher oder später immer wieder in die gleiche Katastrophe von Desinteresse, Gefühllosigkeit oder gar Gewalt.
Es gibt keine Rache, keine endgültige Abrechnung, wie sie auch der Leser von Seite zu Seite mehr herbeisehnt.
Und doch scheint am Ende eine Genesung und eine Art Aussöhnung mit der Vergangenheit möglich – herbeigeführt aus eigener Kraft von jener Frau, die mit ihrem Namen endlich auch ihr Leben geändert hat.
Ein großartiges Buch: Packend, verstörend, tiefgründig und doch immer wieder poetisch und von bittersüßer Traurigkeit. Ein Roman, der noch lange nachhallt – gerade weil eine solche Geschichte auch heute noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat Â…

Miss Sophie

 

Gastrezension(en):


Name: Bettina Klusemann
Email: bettina@klusemann.de
Datum: 8.3.2006 (15:18)

Monika Detering, „Herzfresser“ Gastrezension Es ist die Zeit, als Männer mit abgeschabten Kanten an den Mänteln sich in Parks treffen, Ihre Ersatzbeine austrecken, stumm nebeneinander sitzen und an den Krieg denken. Gute Butter gibt es nur sonntags, Katholiken tyrannisieren Kinder mit Höllenängsten. Aufmüpfige Kinder gehören in den Kohlenkeller. Marie ist aufmüpfig. Sie wehrt sich gegen Autoritäten wie Lehrer, die Mutter, die Nachbarin. Schläge steckt sie mutig ein. Sie ist ein schwieriges Kind, das bei der alleinerziehenden Mutter lebt. Vater hat eine neue Frau und ein neues Kind. M.Deterings Nachkriegsdeutschland erscheint zum Greifen nah. Wer es erlebt hat, erfährt es ein zweites Mal. Soweit die konkrete, sichtbare Ebene des Romans, in dem sich Marie hinter der Fassade des „schwierigen“ Kindes versteckt. Im Kohlenkeller panzert sie ihre Seele gegen die Welt, wenn da nicht Vater wäre. Er dringt mit Verlockungen wie schöne Kleider, Zuschuss zur Klassenfahrt in Maries Leben ein, entlastet die hilflose Mutter scheinbar von ihren Pflichten, indem er Marie eine Freude macht. Sonntags holt er das Kind im schicken Wagen zu Ausflügen ab. Marie hasst diese Sonntage. Hier macht der Vater einen Strich durch ihr Leben, macht etwas, das er ihr gemeinsames Geheimnis nennt. Und zum ersten Mal wehrt sich Marie nicht. Sie wird zum hilflosen Gegenstand von väterlicher Autoriät, die stärker wirkt als Stockschläge und Kohlenkeller. „Du hast mir zu gehorchen! Du tust was ich dir sage!“ Sie kann sich nicht wehren. Sie schreit nicht. Sie zieht sich in sich selbst zurück. In ausdrucksstarken Sprachbildern spricht die Autorin alle Sinne des Lesers an. Ihre unglaublich empfindsame Sprache lässt uns fühlen, schmecken, riechen, sehen mit Marie. Erst als Marie erwachsen ist, stellt sie sich der damals erlebten Realität. Als Madena kehrt sie mit neuer Identität zurück, gewinnt endlich den Abstand und bekennt sich zu ihrem neuen Leben. Bettina Klusemann, Potsdam