Das Buch direkt bei Amazon bestellen Martha Grimes Cornelia C. Walter
Still ruht der See

Original: Cold Flat Junction
(2. Band Emma Graham)
Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter
Goldmann TB
ISBN: 3-442-4628-X

La Porte, ein kleiner Gebirgsort am Spirit Lake: Kurz nachdem Ben Queen aus dem Gefängnis entlassen wird, wo er die letzten zwanzig Jahre wegen Mordes an seiner Frau Rose verbracht hat, wird seine Tochter Fern erschossen.
Die Polizei geht davon aus, dass Ben auch Fern auf seinem Gewissen hat. Doch die aufgeweckte zwölfjährige Emma, die im heruntergekommenen Hotel Paradise lebt, glaubt nicht an seine Schuld – in keinem der beiden Mordfälle.
Sie tut alles, um die Unschuld Bens zu beweisen. Doch das gefällt dem wahren Schuldigen ganz und gar nicht …

Rezension:
Dies ist der zweite Band der Emma-Graham-Reihe - die unbedingt chronologisch gelesen werden sollte, weil andernfalls nicht nur einige Feinheiten untergehen, sondern manche der Figuren erst in der Summe der dann insgesamt mehr als 900 Seiten so plastisch werden, wie es ihnen gebührt.

Die Zwölfjährige fühlt sich - nicht zu Unrecht - nach wie vor zurückgesetzt und emotional vernachlässigt; fährt doch die ganze "Familie" (Mutter Jen, ihre Geschäftspartnerin Lola Davidow, sowie deren arbeitsscheue und missgünstige Tochter Ree-Jane) ohne das Mädchen eine Woche lang nach Florida.
Und es lässt den Leser nicht kalt, wenn Emma sich in dieser Zeit ihren ganz eigenen "Fantasie-Urlaub" bastelt - mit Hilfe von bunten Postern, einem Sandhaufen und alten Platten.

Doch gerade dieser Erfindungsreichtum - und natürlich die Tatsache, dass niemand das Kommen und Gehen der "Hotel-Interims-Managerin-und-Kellnerin" kontrolliert (so lange sie der alten Miss Bertha, ihrem ständig nörgelnden Dauergast, pünktlich morgens, mittags und abends etwas serviert, das diese mit viel Tamtam zurückgehen lassen kann), sind es, die Emma in den Ermittlungen zum Tod der drei Deveraus weiterbringt: Marie-Evelyn, die 40 Jahre zuvor, erst 12jährig, ertrank. Rose, die 20 Jahre zuvor bestialisch erstochen wurde. Fern, die man erst vor wenigen Wochen erschossen auffand.

Auf einfühlsame Art und durch viele viele Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen enthüllt die Jung-Detektivin, die ganz viele Lieblingsorte, aber nur eine Handvoll "Lieblingsmenschen" hat, nach und nach eine ebenso tragische wie unheilvolle Familiengeschichte.

Doch so traurig die Vorstellung von so viel Lieblosigkeit - in der Vergangenheit wie Gegenwart - ist, so tröstlich (und nachgerade heiter) sind doch die Beziehungen, die Emma zu den Figuren außerhalb ihrer Kernfamilie hat:
Treulich zur Seite stehen ihr nach wie vor die Gebrüder "Ulub" und "Ubub" etwa, die niemand außer dem alten Mr. Root versteht oder auch nur verstehen möchte, weil man ihnen ob ihres Sprachfehlers auch gleich die Intelligenz abspricht.
Die beiden alten Ladenbesitzerinnen, die immer Zeit für ein Tässchen Kakao mit dem einsamen Kind haben - und dabei viele Geschichten aus der Vergangenheit zum Besten geben.
Die Bewohner des Nachbarortes, Cold Flat Junction, die Emma ebenfalls ins Herz geschlossen haben und mit Auskünften nicht geizen.
Und natürlich Maud, die Kellnerin aus ihrem Lieblingscafé, sowie Sam, der Sheriff.
Wobei das Verhältnis zu Letzterem lange Zeit nicht unbelastet ist, gibt es doch so einiges, was Emma wissentlich vor ihm verbirgt.

Nach einem extrem spannenden Finale ist vieles klarer als am Ende des ersten Bandes - und doch sind einige Handlungsstränge noch lose, haben einige Figuren ganz offensichtlich nach wie vor ihre ganz eigene "Leiche im Keller".

Der Roman lebt nicht von wilden Verfolgungsjagden - obschon der Gruselfaktor extrem hoch ist, wenn Emma mitten in der Nacht ein verlassenes Haus inspiziert und dabei fürchterlich erschreckt wird.
Doch Grimes Genialität zeigt sich genau darin, dass sie solche Situationen mit einem höchst ungewöhnlichen Gegengewicht ausbalanciert und ihnen noch einen "Extra-Dreh" verleiht: Im vorliegenden Fall ist es die Tatsache, dass die Schülerin sich in dieser Extremsituation ausgerechnet von einem Literatur liebenden Wilderer mit Hilfe einer kleinen Erpressung Geleitschutz besorgt.

Das ist ebenso charmant und liebevoll wie es klingt - und symptomatisch für das gesamte Buch.
Ungewöhnliche Wendungen, überraschende Charakterzüge der originellen Figuren, ein kleines bisschen Boshaftigkeit oder Skurrilität (wie etwa die Umsetzung von "Medea" als Musical), intensive Schilderungen eines ganz eigenen Mikrokosmos mit seinem ganz speziellen Tempo ... - in der Summe entsteht so mehr als ein Krimi, viel eher eine Art Gesellschaftsroman, durchaus geeignet auch für eine junge Leserschaft.

Die nach der Lektüre der beiden ersten Bände mit Sicherheit genauso gespannt ist wie die Rezensentin, ob im dritten Band der unsichtbare Taxiunternehmer jemals einen Fahrgast befördern wird und ob Emma das geheimnisvolle Mädchen aus Band 1 und 2 wieder zu Gesicht bekommen wird ...

Miss Sophie