Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jeffery Deaver Thomas Haufschild
Der gehetzte Uhrmacher

Original: The Cold Moon
Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild
(7. Band Lincoln Rhyme und Amelia Sachs)
Blanvalet gebunden
ISBN 978-3-7645-0202-7

Blutige Handabdrücke auf einem Pier – die Leiche fortgerissen von den eiskalten Fluten des Hudson River.
Ein toter Mann in einer dunklen Seitengasse des Broadway – sein Brustkorb zerquetscht von einem tonnenschweren Eisenquader …
Lincoln Rhyme und Amelia Sachs können zwar kein Motiv für die quälend grausamen Morde entdecken, doch dafür hat der Täter an beiden Tatorten deutliche Spuren hinterlassen: kleine, laut tickende Standuhren, die unerbittlich die letzten Sekunden im Leben der Opfer herunterzählten – die unverwechselbare Visitenkarte des „Uhrmachers“.
Fieberhaft machen sich die beiden Ermittler auf die Jagd und erhalten dabei unschätzbare Hilfe von einer neuen Kollegin: Kathryn Dance, eine weltweit anerkannte Spezialistin für Körpersprache, entlarvt Falschaussagen präziser als jeder Lügendetektor.
Und tatsächlich scheint mit ihrer Unterstützung der Täter schon bald entlarvt. Doch dann wird klar: Der Uhrmacher ist seinen Verfolgern längst einen entscheidenden Schritt voraus, und irgendwo im Verborgenen tickt ein Zeitzünder unerbittlich gegen Null …

Rezension:
Kennen Sie die Matroschkas – diese russischen Puppen?
Bei der Lektüre eines Deaver fühlt sich der Leser, als habe er genau eines von diesen hölzernen, bunten, ineinander schachtelbaren Gebilden in der Hand: Jedes Mal, wenn der Fall die entscheidende Wendung genommen hat, Motiv und Täter offensichtlich geworden sind oder letzterer sogar dingfest gemacht wurde ... dann dauert es nur wenige Seiten und eine bis dato unbekannte Entwicklung führt zu einem weiteren (oder ganz anderen) Schuldigen nebst völlig neuem Motiv.
Und weit gefehlt, würde man nun vermuten, dass definitiv das Ende gekommen sei, sobald alle Katzen aus dem Satz bzw. sämtliche Puppen aus der Hauptfigur heraus sind. Nein, denn Jeff Deaver, der Tausendsassa, hat nicht das geringste Problem damit, alles wieder hineinzuwerfen und ordentlich durcheinanderzumischen.

Und wiewohl der Fan das natürlich genau weiß, ja geradezu erwartet (und demzufolge auch jede einzelne Figur von Anfang an argwöhnisch beäugt – sie könnte ja ein ganz anderer sein als vorgegeben), gelingt es dem Autor doch auch diesmal wieder, seine Leser zu überraschen und für mehr als fünfhundert Seiten an sein Buch zu fesseln.

Es ist natürlich aber auch unendlich spannend, einen offenbar geisteskranken Serienmörder und seinen sadistisch veranlagten Handlanger auf jedem Schritt ihrer Jagd nach unschuldigen Opfern zu beobachten und dabei ständig zu hoffen, die in allen Einzelheiten geplante Tat werde sich noch irgendwie in letzter Sekunde vereiteln lassen.
Umso mehr, wenn – wie diesmal – für die Partnerin des gelähmten Genies Lincoln Rhyme so viel auf dem Spiel steht: Zum allerersten Mal trägt sie allein die Verantwortung für einen Fall. Dumm nur, dass dies bedeutet, dass das rothaarige Ex-Model auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen muss – vor allem, da „ihr“ vermeintlicher Selbstmord eines Geschäftsmannes so gut wie niemanden der Kollegen interessiert. Denn diese konzentrieren all ihre Energien auf den geheimnisvollen „Uhrmacher“, einen Meister der kunstvollen Arrangements.
Aber damit nicht genug: Auch an der privaten Front kommt Amelia mächtig ins Schleudern – ein lang gehütetes Familiengeheimnis droht, ihr gesamtes weiteres Leben in Frage zu stellen …

Eigentlich kaum vorstellbar, wie faszinierend eine Handlung sein kann, in deren Mittelpunkt ein kauziger und zuweilen kotziger Rollifahrer steht, der gerade mal seine hoch komplizierten technischen Hilfsgeräte steuern kann, dessen brillanter Geist und Kombinationsvermögen aber noch die kleinsten Partikel Dreck in güldene Informationsbrocken verwandelt.
Und wenn es einen gerissenen Täter gibt, so ist der Ermittler mit der spitzen Zunge immer noch ein bisschen schlauer und dem Bösewicht eine Nase voraus. Meistens zumindest – selbst wenn es im ersten Moment nicht danach aussieht. Aber nicht immer … was dann auch mit fatalen Folgen verbunden sein kann.

Natürlich dürfen auch in diesem, dem siebten Band der Reihe um das ungleiche Ermittlerpaar, lieb gewonnene Nebenfiguren wie Pfleger Thom oder Detective Lon Sellitto nicht fehlen. Schön aber, dass Jeffery Deaver noch ein paar neue Charaktere einführt: Den im letzten Band schwer verwundeten Streifenpolizisten Ron Pulaski oder die Verhörspezialistin Kathryn Dance. Beide hat der Leser hoffentlich nicht zum letzten Mal getroffen.

Alles in allem ist auch dieser Band wieder ein Beweis dafür, dass ein Autor sich auf seine absoluten Stärken konzentrieren und dennoch mit jedem Roman etwas absolut Neues, Eigenständiges abliefern kann.
Es gibt atemberaubende Verfolgungsjagden, zahlreiche ausweglos scheinende Gefahrensituationen für die Protagonisten und ein Feuerwerk von überraschenden Wendungen. Es gibt aber auch die kleinen Momente, den Blick darauf, was die Menschen bewegt, sie antreibt, sie lähmt, ihr Leben bestimmt. Und mit jedem, zuweilen auch ganz winzigen Ausschnitt, den wir vom Alltag und der Vergangenheit einer Figur erhalten, eröffnet sich eine ganze Welt an unausgesprochenen Tatsachen.
Deaver schildert aberwitzige, oft abstoßend eklige, aber stets außergewöhnliche Verbrechen. Doch gleichzeitig lässt er zwischen zwei Buchdeckeln einen Mikrokosmos an Einzelschicksalen entstehen, die doch immer auch eine Verbindung haben zum „großen Ganzen“.
Und schließlich gibt es auch diesmal einiges zu lernen – über das Wesen der Zeit, die Geschichte der Uhrmacherei, über Kinesik (die Analyse des Bewegungsverhaltens während eines Gesprächs) und darüber, wie Korruption und Manipulation vor keiner Hierarchieebene Halt machen.
„Der gehetzte Uhrmacher“ ist ein Muss für alle Rhyme-Fans, aber gleichzeitig auch eine hervorragende Gelegenheit für Neu-Deaveristen, eine brillante Reihe kennenzulernen, die allerdings einen Nachteil hat: Der Abstand zum Folgeband ist IMMER zu groß!

Miss Sophie