Das Buch direkt bei Amazon bestellen Friedrich Ani
Wer tötet, handelt

(2. Band "Der Seher")
dtv TB
ISBN 978-3-423-21061-4

Der blinde Jonas Vogel ist gerade auf dem Nachtspaziergang mit seinem Hund, als ihn die Hilferufe eines am Straßenrand liegenden Verletzten hochschrecken lassen. Ein Einbrecher hat dessen Freundin in ihrer Parterrewohnung als Geisel genommen.
Schon als er zum ersten Mal den Namen der jungen Frau hört, ahnt der ehemalige Kommissar, dass er seinem Sohn Max, der als sein Nachfolger den Großeinsatz der Polizei leitet, trotz seiner Behinderung von Nutzen sein kann.
Jonas kennt Silvia Klages gut: Ihre Eltern wurden bei einem Überfall vor ihren Augen getötet, und sie gibt sich seither die Schuld an ihrem Tod.
Da Vogel weiß, dass schwer depressive Menschen zu jeder Reaktion fähig sind, beschließt er, sich selbst im Tausch als Geisel anzubieten. Wie die Neugierigen hinter den Absperrgittern erstarrt Max entsetzt, als sein Vater nach dem Kopf des Hundes tastet und auf die Haustür aus gelbem Milchglas zugeht ...

Rezension:
Eine beklemmende, beängstigende Eröffnungssequenz:
Die quälenden Erinnerungen einer jungen Frau, die mit ansehen musste, wie ihre Eltern erschlagen wurden.
Jeder Satz schmerzt den Leser, so, als sei er selbst dabei gewesen, als brächten auch ihm die Geräusche und Bilder jener Nacht permanent Alpträume.

Schnitt.

Als nächstes trifft der Leser auf Vater und Sohn, die einen alles andere als harmonischen Umgang miteinander pflegen.
Nicht wirklich verwunderlich.
Sind Beziehungen zwischen Eltern und Kindern im gleichen Beruf, ja sogar in derselben Dienststelle, schon per se problematisch, so herrschen hier erschwerte Bedingungen:
Fünfzehn Monate nach dem folgenschweren Unfall, der zur Erblindung und damit Zwangspensionierung von Jonas Vogel führte, will dieser mit stoischer Ruhe sein gewohntes Leben fortführen, während Sohn Max die Souveränität seines alten Herrn und dessen Leugnen des nur allzu Offensichtlichen zornig bis unter die Haarspitzen macht.
Zumal der junge Vogel, von jeher im Schatten des Vaters, dessen Verhalten gegenüber der Mutter extrem missbilligt - umso mehr, da sie dadurch alkoholsüchtig geworden ist.
Alle sorgen sich um den Behinderten - doch ihn kümmert nichts außer der eigenen Person.

Dann kommt die Geiselnahme, Jonas mittendrin ... - und plötzlich ist die gesamte Familie involviert. Seine Frau, die sowieso schon leidet, weil ihr Mann sich nicht um sie kümmert, sondern mit seinem Beruf verheiratet ist und zwar immer noch, obwohl man ihn aus dem Dienst entlassen hat. Sein Sohn, vor allen brüskiert. Seine Tochter, die gegen jede Form von Obrigkeit rebelliert und plötzlich zum Erfüllungsgehilfen der Staatsmacht wird.

Wie so oft in Anis Romanen sind alle Beteiligten irgendwie angeschlagen, beschädigt, haben ihr Päckchen zu tragen ... - und mit der Zeit zeigt sich, dass auch der Geiselnehmer eine arme Sau ist, die, einmal aus der Lebensbahn geworfen, die Kurve nicht mehr gekriegt hat.

Aber auch die Guten sind nicht ausschließlich gut und müssen so manche Schlappe einstecken, ihre Denkweise und ihr Verhalten revidieren, um die Chance für einen Neuanfang zu haben.

Ani ist der Meister der Eindringlichkeit - er braucht keine gruseligen Details, um Grauen greifbar werden zu lassen.
Und er schenkt uns Figuren, die lebendig sind. Liebenswert, abstoßend, bedauernswert, rücksichtslos, kraftvoll, pathetisch - in anderen Worten: durch und durch glaubwürdig und menschlich.
Manche davon möchte man an der Hand nehmen, sie vor dem Unglück bewahren, in das sie ganz offensichtlich mit voller Kraft hineinrennen. Manche möchte man schütteln, wünscht ihnen, dass sie selbst leiden müssen, um endlich mal zu erleben, wie das ist. Für andere wiederum möchte man einfach nur weinen, weil niemand verdient, solche Dinge erleben zu müssen und auf ewig durch diese Erinnerung zum seelischen Krüppel zu werden.

Das Ende ist ebenso traurig wie im allerletzten Satz mit einem Fünkchen Hoffnung versehen.
Ein echter Ani eben.
Und darum als Lektüre nicht nur für Fans ein Muss.

Miss Sophie