Das Buch direkt bei Amazon bestellen Tom Rob Smith Armin Gontermann
Kind 44

Original: Child 44
Deutsch von Armin Gontermann
(1. Band Leo Demidow)
Dumont gebunden
ISBN 978-3832180560

Moskau, 1953.
Auf den Bahngleisen wird die Leiche eines kleinen Jungen gefunden.
Nackt. Fürchterlich zugerichtet.
Doch in der Sowjetunion der Stalinzeit gibt es offiziell keine Verbrechen. Und so wird der Mord zum Unfall erklärt.
Der Geheimdienstoffizier Leo Demidow jedoch kann die Augen vor dem Offenkundigen nicht verschließen.
Als der nächste Mord passiert, beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln und bringt damit sich und seine Familie in tödliche Gefahr...

Rezension:
Absolute Kontrolle, blinder Gehorsam, Verrat - und immer wieder Gewalt und Willkür - prägen den (Arbeits-)alltag und das gesamte Leben von Leo.

Zunächst scheint dies dem hochdekorierten Kriegsheld mit seiner lückenlosen Karriere beim Geheimdienst und der beneidenswert schönen Ehefrau nicht wirklich etwas auszumachen.
Gut, da gibt es den Kollegen, dessen Feindseligkeit nur wenig versteckt ist und echte Freunde besitzt er auch nicht.
Aber all das wird ausbalanciert durch die Überzeugung, dass das, was er tut, tun muss, stets zum Wohle des Staates und damit des ganzen Volkes geschieht.
Bis zu jenem Tag, an dem alles anders wird.

Gerade hat er noch einen Untergebenen mit Strenge davon überzeugt, den Verdacht, sein Kind sei ermordet worden, fallen zu lassen bzw. vor allem in der Öffentlichkeit nicht mehr zu äußern, und einen Volksfeind gejagt, dem er erst das Leben rettet, nur um ihn dann in der Lubjanka, der Geheimdienstzentrale, den schlimmsten Foltermethoden auszuliefern, da soll er plötzlich die eigene Frau, die unter Verdacht steht, mit dem Westen zu kollaborieren bespitzeln ...
Ein Schelm, der dabei einen inhaltlichen Zusammenhang zur Tatsache herstellt, dass sich der Dreißigjährige kurz zuvor erstmals offen gegen das System wandte, indem er einen sadistischen Offizier mit Gewalt maßregelte ...

Danach geht es Schlag auf Schlag: Natürlich ist Raisa unschuldig, was aber genau gar keine Rolle spielt, beide werden verhaftet, entgehen nur knapp dem Gulag und landen nach einer Degradierung in der Provinz.
Dort finden sie erstmals Anhaltspunkte dafür, dass ein Massenmörder umgeht, der es auf Kinder abgesehen hat. Doch niemand will ihm glauben.

Die verzweifelte Jagd auf den Täter wird zu einer ganz persönlichen Angelegenheit und am Ende gar zu einer Frage von Leben und Tod. Für alle Beteiligten ...

Mit dem Etikett "atemlose Spannung" wird man Tom Rob Smiths Erstling nur wenig bis gar nicht gerecht. Unglaubliche Dinge muss der Leser verdauen - Folter und immer wieder Grausamkeit, Bespitzelung, Tod.
Das Klima ist durch und durch vergiftet - keine wagt es, dem anderen zu trauen und auch der Leser tut sich schwer damit, die "Guten" von den "Bösen" zu unterscheiden.
Zumal Leos charakterliche Wandlung - vom linientreuen Genossen zum Sucher nach der Wahrheit - längst kein Segen für seine Umwelt ist; zumindest nicht unmittelbar.
Im Gegenteil führen seine Bemühungen um die Entlarvung des wahren Täters zur Verhaftung und gar zum Tod vieler anderer Unschuldiger. Eine Situation, wie sie verfahrener nicht sein könnte, weil es immer nur einen schlechten Weg zu geben scheint, egal, in welche Richtung man geht!
Und unvorstellbar, wie immer dann, wenn der Leser glaubt, nun tatsächlich einen Punkt erreicht zu haben, an dem es schlimmer nicht mehr kommen kann, immer noch ein weiteres, schreckliches Geschehen seinen Lauf nimmt.

Das Schlimmste daran: Fiktiv sind die Figuren (und das nicht einmal komplett, orientiert sich Smith doch in mehreren Punkten an den tatsächlichen Begebenheiten rund um den Massenmörder Andrej Tschikatilo), die Ausgangslage, das Klima, die Vorgehensweise der Miliz hingegen sind alles andere als erfunden.
Nur zu real ist das Konzept des "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" - wie etwa Kriminalität, die dem dekadenten Westen zugeschrieben wird, ebenso wie der Bruder, der den Bruder verrät und einer Schuld bezichtigt, die er vielleicht gar nicht begangen hat, nur um selbst besser dazustehen oder Unheil von der eigenen Person abzuwenden.

Ein in jeder Hinsicht bemerkenswerter Roman - bei dem es keinesfalls wundert, dass sich Ridley Scott angeblich die Filmrechte bereits gesichert hat.

Miss Sophie