Das Buch direkt bei Amazon bestellen Tom Rob Smith Armin Gontermann
Kolyma

Original: The Secret Speech
Deutsch von Armin Gontermann
(2. Band Leo Demidow)
Dumont gebunden
ISBN 978-3832180898

Moskau 1956.
Nach Chruschtschows Geheimer Rede herrscht Aufruhr in der Sowjetunion. Überlebende der großen Säuberungen melden sich anklagend zu Wort, es kommt zu ersten Racheakten.
Der ehemalige KGB-Agent Leo Demidow soll den Tod von zwei Geheimdienstlern aufklären. Dabei legen die alten Kollegen ihm jede Menge Steine in den Weg, denn für sie ist Leo ein Verräter.
Doch dann kommt es noch schlimmer: Seine Adoptivtochter Soja wird gekidnappt. Leben gegen Leben - das ist die simple Logik der Entführer. Er soll verdeckt in den schlimmsten Gulag, nach Kolyma, um dort einen Mann zu befreien, den erst selbst Jahre zuvor ins Straflager geschickt hat.
Bereits am ersten Abend wird er jedoch enttarnt und plötzlich geht es nur noch ums nackte Überleben ...

Rezension:
Verräter oder treuer Staatsdiener?
Auch im zweiten Band um Leo Demidow, den ehemaligen Geheimdienstmann, jetzt Leiter des Moskauer Morddezernats, wird kein Zweifel daran gelassen, dass dieser Protagonist NICHT edel, hilfreich und gut ist - oder zumindest nicht Zeit seines Lebens war.

Einen Priester hat er verraten in seiner aktiven Zeit, kostbare Dokumente, über Jahrzehnte von Menschen mit dem eigenen Leben beschützt, skrupellos vernichtet, Männer, Frauen, Greise und Kinder, so viele, dass er selbst die genaue Zahl nicht mehr weiß, verhaften und verurteilen lassen. Im schlimmsten Fall zum Tod, im besten Fall zu 25 Jahren Arbeitslager unter unmenschlichen Bedingungen ...

Ist da eine Wandlung glaubhaft?
Seine Adoptivtochter, die die Ermordung der eigenen Eltern, an der Leo mittelbar beteiligt war, mit ansehen musste, sieht das nicht so - und trotz aller verzweifelten Bemühungen durch Leo und seine Frau Raisa hasst sie den Mann, bei dem sie seit Jahren lebt, von ganzem Herzen.

Als wäre diese Situation nicht schon schlimm genug, sieht sich Leo mit ehemaligen Kollegen konfrontiert - mit deren Schuld und seiner eigenen.
Und die Frage rückt ins Zentrum: Wie vergangen ist die Vergangenheit? Was kann der einzelne tun, um begangenes Unrecht zu sühnen? Ist das pure Schuldeingeständnis genug?
Vor allem: Was passiert, wenn die politische Führung mehr oder weniger öffentlich ein solches Eingeständnis macht?

Genau an diesem Punkt setzt Tom Rob Smith an und macht aus den verbrieften historischen Fakten einen packenden Roman, der den Leser von einem unfassbaren Höhepunkt zum nächsten treibt.
Zum Dreh- und Angelpunkt wird der Moment, an dem Chruschtschows 42-seitige Geheimrede vom 25. Februar 1956 allen sowjetischen Bürgern zugänglich gemacht und erstmals offen über Stalins blutigen Terror, seine Methoden, aus Unschuldigen Geständnisse herauszupressen und die Vorgehensweise seiner Erfüllungsgehilfen gesprochen und geschrieben wird.

Neben der allgemeinen Erschütterung kommen immer mehr ganz persönliche Schicksale zum Vorschein - die Gespenster der Vergangenheit kriechen aus den Löchern der Kanalisation und bedrohen das Leben von Männern wie Leo und ihren Familien.

Der einzig gangbare Ausweg für den Ex-Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes ist es, das eigene Leben einzusetzen, um das seines Kindes und sein eigenes Seelenheil zu retten.

Dann mitzuerleben, und sei es auch nur in der Position eines Lesers, wie sich die Geknechteten erheben und sich unbarmherzig an ihren Peinigern mit genau denselben Methoden rächen, die sie erleiden mussten, ist grausam und notwendig zugleich.

Es macht fassungslos, in aller Deutlichkeit zu sehen, wie auf der einen Seite Menschen zu Instrumenten einer Diktatur werden - wie Priester, Lehrer, Ärzte sich nicht scheuen, die, die ihnen vertrauen, zu denunzieren - um sich selbst zu retten oder weil sie an die Allmacht des Staates glauben und nicht aus ihrer Haut können.

So viele Tote, so viele sinnlose Morde - die Lektüre macht sprachlos und der Leser spürt die Verzweiflung der Protagonisten als wäre es seine eigene. Zum Entsetzen gesellt sich tiefe Trauer beim Anblick der vielen, die durch unmenschliche Bedingungen und ein ebensolches System zu unmenschlichem Verhalten gezwungen werden, wo erst Rache dominierst und dann Gewalt zum Selbstläufer wird.

Das hallt noch lange nach - nicht zuletzt, weil Smith eine ebenso gewagte wie glaubhafte Erklärung für den Auslöser des ungarischen Volksaufstandes vom Oktober 1956 liefert, in dem rund 5000 Menschen ihr Leben verloren.

Keine Frage, "Kolyma" ist keinen Deut weniger gelungen als der hochgelobte erste Band "Kind 44". Es ist ein großartiger Kriminalroman mit einem der bewegendsten und glaubhaftesten Protagonisten der letzten Jahren. Bleibt zu hoffen, dass Tom Rob Smith an dieser Figur, die noch lange nicht auserzählt ist, dran bleibt und uns weitere gelungene Bücher dieser Reihe schenkt.

Miss Sophie