Das Buch direkt bei Amazon bestellen Rebecca Abe
Das Gedächtnis der Lüge

Skalding Verlag gebunden
ISBN 978-3940695024

Eine Familie, in der nichts ist, wie es scheint.
Ein Lüge, die langsam in Vergessenheit gerät.
Und eine Vergangenheit, die dunkler nicht sein kann.
Miriam ist vierzig und schwanger, als sie beginnt, die Geschichte ihrer Familie zu hinterfragen.
Wohin verschwand die Mutter, als Miriam drei Jahre alt war? Warum ließ der Vater das kleine Mädchen bei der allzu strengen Großmutter zurück? Welche Verbindung hatte die Großmutter zum nahen Lebensbornheim, und welches Geheimnis nahm sie mit ins Grab?
Die Vergangenheit, die gemeinsame Geschichte unserer Familie, bestimmt unsere Identität. Miriams Weltbild gerät ins Schwanken, als sie mehr über ihre Herkunft erfährt. Jetzt will sie endlich erfahren, wer sie wirklich ist.

Viel Ergänzungsmaterial zum Inhalt findet sich übrigens auf der Website der Autorin. Ganz besonders hervorzuheben sind dabei Tonkas Zeichnungen, ebenfalls aus der Feder von Rebecca Abe, die ja auch Illustratorin und Malerin ist.

Rezension:
Ein Zeitraum von mehr als 100 Jahren und vier Frauen - jede auf ihre ganz eigene Art traumatisiert und vom Schicksal gebeutelt:

Maria, die Großmutter, ein neuntes Kind, nicht wirklich erwünscht, weil weiblichen Geschlechts, geboren im Jahr 1900.
Hart ist sie im Umgang mit ihrem friedfertigen, im ersten Weltkrieg verwundeten Mann, aber fast sklavisch ist ihre Verehrung für Heinrich Himmler und dem Konzept der Mutterschaft im Dritten Reich. Bedauerlich nur, dass sie, mittlerweile bereits Mitte 40, selbst kein Kind hat ... und fast folgerichtig, dass sie die passende Gelegenheit ergreift, sich im ersten Lebensborn-Heim um eine Stelle zu bewerben, stets in der Hoffnung, früher oder später selbst einmal in die illustre Runde der "Pensionärinnen" aufgenommen zu werden.

Miriam, die Enkelin, rund ein Vierteljahrhundert später aufgewachsen bei eben dieser Maria, mittlerweile zu einer despotischen, verschrobenen, alten Frau geworden. Mit mehr Strenge als großmütterlicher Liebe erzogen, bei erster Gelegenheit in das rund 40 km entfernte München entflohen, als Änderungsschneiderin recht erfolgreich und erst zum Zeitpunkt der eigenen Schwangerschaft erstmalig an Hintergründen und der Geschichte ihrer Familie interessiert.

Franziska, die Mutter, wie ein melancholischer Hauch über der Geschichte hängend ...

Und schließlich Tonka, die junge Norwegerin. Künstlerisch begabt, durch die Begegnung mit Edvard Munch stark beeinflusst, von den Eltern unverstanden und ausgebremst, von einer Liebe zu Zeiten des Krieges überwältigt und gleichzeitig für den Rest ihres Lebens gezeichnet.

Für sie alle ist das Steinhöringer Lebensborn-Haus von zentraler Bedeutung, einer jener Orte, an dem ledige (und auch verheiratete) Frauen ihre (un- oder außerehelichen) arischen Kinder zur Welt bringen sollten, die man in den dazugehörigen Standesämtern umgehend mit passenden Papieren versah - damit die Jungen und Mädchen in "passende" Familien vermittelt werden konnten, womit man dem Aussterben der Rasse entgegenwirken wollte.

Was Rebecca Abe da beschreibt - die Suche einer Frau nach der eigenen Vergangenheit und die erschütternden Dinge, die sie dabei zutage fördert - das ist ebenso beklemmend, wie schwer fassbar.
Und doch gibt es zahlreiche historische Belege dafür, dass in den Heimen der Lebensborn e.V. im In- und Ausland (deren erstes und übrigens letztes in der Tat das Steinhöriger Haus "Hochland" war) vielfach nicht nur ledige (deutsche und ausländische) Mütter Zuflucht fanden, die von einem SS-Offizier geschwängert worden waren, sondern dass man auch Kinder dorthin verbrachte, die ob ihrer "arischen" Anmutung zu Deutschen gemacht werden sollten und deren wahre Herkunft nach der Vernichtung ihrer Papiere für immer im Dunkeln blieb.

So fragt man sich beständig während der Lektüre: Was ist Fiktion, was ist Wahrheit?
Das Heim, wenige Kilometer von der Kreisstadt Ebersberg entfernt, steht genauso da wie beschrieben.
Die Schicksale der "Wehrmachtskinder" sind historisch belegt.
Finstere Dinge mit Sicherheit in den Kriegswirren geschehen, ohne jemals ans Licht gekommen zu sein.

Die Zeitsprünge, die Perspektivenwechsel, die Einführung einer weiteren entscheidenden Figur (die über Generationen weitergegebene Lumpenpuppe Lailatonka) ... sie alle machen die kraftvolle Erzählung noch vielschichtiger und lebendiger.
Selbst unfreiwillig komische Situationen (die Protagonistinnen neigen dazu, sich an und in höchst unpassenden Orten und Momenten zu übergeben) oder eigentümliche, unerwartete Szenen (wie die sexuellen Praktiken der Großelterngeneration) stören den Lesefluss nicht, sondern verleihen Marias, Tonkas und Miriams Schicksal im Gegenteil noch mehr Tiefe.
In Rebecca Abes Romanerstling ist nichts rund oder gefällig - und doch wird am Ende alles aufgelöst, werden sämtliche Fragen beantwortet (was es für die Beteiligten natürlich keineswegs leichter macht, mit dem neuen Wissen weiterzuleben).

Ein vielversprechendes Debut einer Autorin, die man sich merken muss!

Miss Sophie