Das Buch direkt bei Amazon bestellen Stieg Larsson Wibke Kuhn
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Originaltitel: Män Som Hatar Kvinnor (Millennium 1)
(1. Band)
Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn
Heyne TB
ISBN 978-3-453-43245-1

An seinem 82. Geburtstag erhält der einflussreiche Industrielle Henrik Vanger per Post anonym ein Geschenk. Das Paket enthält eine gepresste Blüte hinter Glas, genau wie in den 43 Jahren zuvor. Vangers Lieblingsnichte Harriet hatte ihm 1958 zum ersten Mal dieses Geschenk gemacht, doch dann verschwand sie spurlos. Ihr Leichnam wurde nie gefunden.
In einer letzten Anstrengung beschließt Vanger herauszufinden, was dem geliebten Mädchen tatsächlich zustieß.
Er engagiert den Journalisten Mikael Blomkvist, der, getarnt als Biograf, bald auf erste Spuren stößt.
Unterstützt wird er von der jungen Ermittlerin Lisbeth Salander, einem virtuosen Computergenie mit messerscharfem Verstand.
Je tiefer Blomkvist und Salander in der Vangerschen Familiengeschichte graben, desto grauenvoller sind ihre Enthüllungen.

Rezension:
Wie kann es sein, dass der fast 700-Seiten-Schmöker eines bis dato als Schriftsteller völlig unbekannten Journalisten Millionen Leser weltweit in seinen Bann zieht?
Liegt es am Plot - hochspannender Krimi um einen jahrzehntelang zurückliegenden Mord ohne Leiche, verstörende Familiensaga, packender Wirtschaftsthriller und Beziehungsdrama in einem?
Liegt es an der schnörkellosen Sprache, die - zusammen mit der ebenso gradlinigen Handlung - Krimifans aller Couleur vereint und sogar solche Leser bei der Stange hält, die in der Buchhandlung normalerweise nicht als erstes zu Mord und Totschlag greifen?
Oder liegt es an den Figuren - schillernd auf der einen Seite, hochgradig traumatisiert und psychisch lädiert, auf der anderen?

Vielleicht wird man es nie erklären können - vielleicht ist es auch nicht wichtig, zu wissen, WARUM es der viel zu früh verstorbene Stieg Larsson geschafft hat, sich mit seinen drei (von geplanten zehn) Bänden ein Denkmal zu schaffen.

Ein grandioser Spannungsbogen zeichnet dieses bald ein halbes Jahrhundert (und mehr) umschließende Familiendrama aus, dessen zahlreiche Handlungsstränge jedoch nie verwirrend wirken.
Und das, obwohl die Protagonisten teilweise jeden "Dallas"- und "Denver"-Clan blass aussehen lassen mit ihren ganz unterschiedlichen seelischen Abgründen und schwierigen Beziehungen untereinander.
Denn im Mittelpunkt der Handlung steht in erster Linie der große und weit verzweigte Familienverbund der Vangers, die alle irgendwie etwas zu verbergen haben und von denen auf jeden Fall einer oder eine mit Harriets Verschwinden zu tun haben muss.
Als Außenstehender soll Journalist Mikael Blomkvist die Sache noch einmal ganz von Anfang aufrollen, Tausende von Seiten Material sichten, sich in uralte Fotos vertiefen, um ein Gefühl für das zu bekommen, was an dem Tag geschah, als der alte Henrik Vanger seine Lieblingsnichte verlor.

Blomkvist kommt diese forcierte Auszeit in dem abgelegenen Örtchen ganz gelegen - steckt er doch in großen persönlichen Schwierigkeiten: Eine von ihm als Autor und gleichzeitig Herausgeber der Zeitschrift "Millennium" lancierte Enthüllungsstory über einen Wirtschaftsboss hat einen Verleumdungs-Prozess mit Verurteilung zu einer Geld- und Haftstrafe nach sich gezogen.
Um größeren Schaden von der Zeitschrift und den Kollegen abzuwenden, zieht sich Mikael daher zunächst komplett zurück und verbeißt sich förmlich in die uralte Geschichte.

Als er Unterstützung bei seinen Recherchen benötigt, wendet er sich an die freiberufliche Ermittlerin Lisbeth Salander, von deren Fähigkeiten er höchst eindrucksvoll an einem sehr plastischen Beispiel überzeugt wird.
Die Mitzwanzigerin mit dem Aussehen eines magersüchtigen Teenagers fällt komplett aus dem Rahmen: Ganzkörpertätowiert und -gepierct unterhält sie aufgrund ihres ganz persönlichen tragischen Schicksals, das erst nach und nach zutage tritt, so gut wie keine herkömmlichen sozialen Kontakte und Beziehungen. Und doch ist sie in Sachen Informationsbeschaffung, Tricksen und Täuschen, aber auch im Ziehen von Schlussfolgerungen so gut wie keine Zweite.

Ein ungewöhnliches Team, diese beiden, das aber in jeder Lebenslage - auch und vor allem, als es ums nackte Überleben geht - zu Höchstleistungen aufläuft, bis es nach einem in mehrfacher Hinsicht komplett unerwarteten Finale zum vorläufigen Schlusspunkt der Zusammenarbeit kommt.

Larsson ist nicht zimperlich: Einige der Vorgänge, die er schildert, Verbrechen, die ans Tageslicht kommen, sowie jene Beschädigungen physischer und psychischer Art, die mehrere der Protagonisten erleiden müssen, sind von beispielloser Abscheulichkeit.
In einem konventionellen Roman würde sich die Polizei darum kümmern - hier schlagen die Opfer selbst zurück, mit ungewöhnlichen und ebenfalls nicht zimperlichen Methoden.
Das ist archaisch und brutal - aber es passt perfekt in einen Text, bei dem der Leser nie das Gefühl hat, grausige Details um ihrer Schockwirkung wegen vorgesetzt zu bekommen.

Auch Emotionen kommen trotz allem nicht zu kurz - mehrere Liebesbeziehungen, die sich parallel entwickeln, bringen zusätzliche Schwierigkeiten in die Beziehungen der Figuren untereinander.
Alles sehr unkonventionell - und doch stimmig.

Den letzten Kick erhält der Roman schließlich sicherlich durch die Tatsache, dass Mikael Blomkvist dem Industriellen, der ihn zu Fall gebracht hat, nach wie vor auf der Spur ist und alles daran setzt, ihn doch noch zu überführen.

Stieg Larsson ist ein Ausnahmetalent mit großer Sachkenntnis für das Umfeld, in dem er seine Romane angesiedelt hat und einem unglaublichen Gefühl für Timing.
Seine Bücher verdienen zu Recht einen Platz in jeder "best of" Ranking-Liste der herausragendsten Thriller.

Miss Sophie