Das Buch direkt bei Amazon bestellen Martha Grimes Cornelia C. Walter
Die Ruine am See

Original: Belle Ruin
(3. Band Emma Graham)
Aus dem Amerikanischen von Cornelia C. Walter
Goldmann gebunden
ISBN: 978-3-442-31123-1

Die 12-jährige Emma ist in ihrem Heimatort La Porte am Spirit Lake schon eine kleine Berühmtheit. Das kecke, altkluge Mädchen hat nämlich zwei Kriminalfälle aufgedeckt und verfolgt bereits eine neue heiße Spur.
Die Ruine des einstigen Luxushotels, birgt nämlich so manches Geheimnis. So erzählen die alten Stammgäste im Hotel von Emmas Mutter nach dem einen oder anderen Gläschen Likör von einer mysteriösen Entführung, die sich vor vielen Jahren im Belle Rouen zutrug:
In einer rauschenden Ballnacht wurde das Baby eines amerikanischen Ehepaares entführt - ohne dass jemals Lösegeld gefordert oder der Fall polizeilich weiterverfolgt wurde.
Die Ungereimtheiten häufen sich, und Hobbydetektivin Emma kann sich des Verdachts nicht erwehren, dass es entweder gar kein Kind gab, oder dass die Eltern bei der Entführung ihre Finger mit im Spiel hatten.
Mit Feuereifer begibt sich Emma auf die Spur des verschwundenen Mädchens ...

Rezension:
Und sie hat es WIEDER getan!

Hat einen absolut faszinierenden, umwerfend komischen, dabei geheimnisvollen und spannenden Roman geschrieben, der weit mehr ist als "nur" ein Krimi, sondern viel eher ein Sittengemälde, ein Sprung mitten hinein ins Amerika der Fünfziger Jahre.

Wieder steht die ebenso gewitzte wie in gewisser Weise bedauernswerte Emma-Graham im Mittelpunkt des mittlerweile dritten Bandes der Reihe, die unbedingt chronologisch gelesen werden sollte. Denn nur wer die Abenteuer der Zwölfjährigen von Anfang an mitverfolgt, sie dabei begleitet, wie sie neue Menschen trifft und sie für ihre Zwecke einspannt, ihr in ihrer Einsamkeit Gesellschaft leistet, nur der kann gleichzeitig gerührt und ergriffen sein von dem, was sich in dieser amerikanischen Kleinstadt alles tut.

Die Leute, die dort leben, sind alle auf ihre Weise Originale.
Das Brüderpaar Ulub und Ubub etwa, bei dem sich niemand die Mühe macht, verstehen zu wollen, was sie so schwerfällig artikulieren. Außer Emma - unterstützt vom alten Mr. Root.
Oder Dwayne, der Meister-Mechaniker, Freizeitwilderer, Literaturkenner und ein Mannsbild zum Verlieben.
Ebenbürtig ist ihm nur Sam, der Sheriff, über dessen Ehe man weit weniger erfährt als darüber, wie er sich mit Vorliebe mit Kellnerin Maud kabbelt.

Ihnen allen - wie auch der alten Wahrsagerin, der reichen und sympathischen Kleptomanin oder dem betagten Arzt und Schmetterlingsforscher ist eines gemein:
Sie mögen und respektieren Emma, schenken dem vaterlosen Kind, das oftmals wie innerlich erstarrt wirkt, jene Zuneigung und Wärme, die sie "zu Hause" vermisst.

In jenem "Zuhause", dem Hotel Paradise, in dem Emmas Mutter die Küche regiert, wo sie traumhafte Speisen komponiert, ihre den Drinks sehr zugeneigte Geschäftspartnerin über die Bücher und die Getränkevorräte herrscht, deren boshafte Tochter sich keine noch so niederträchtige Bemerkung verkneift und wo sich alle (außer Emma und Walter, dem Spüler) vor der 91jährigen Großtante im 3. Stock fürchten.

Tante Auroras Gedächtnis mit einer Vielfalt von immer neuen Cocktails anzukurbeln ist eine Herausforderung, der sich Emma täglich mehrfach aufs Neue stellen muss, wenn sie denn irgendwelche Details über das gut zwei Jahrzehnte zurückliegende Verbrechen zu Tage fördern möchte.

Alternativ heißt es, durch geschickte Fragen andere Zeitzeugen zum Reden zu bringen - vor dem Hintergrund des Zeitfaktors gar kein so leichtes Unterfangen, denn Emma muss nicht nur mehrmals am Tag bei den Mahlzeiten bedienen, sondern nun auch die Rolle des Deus-ex-Machina im von ihrem Bruder Will und seinem Freund ersonnenen Medea-Musical einnehmen.

Von der ersten Seite an kann der Leser nicht umhin, diese Protagonistin in sein Herz zu schließen. Zuweilen ist sie unvernünftig und auch boshaft (fast gehört es schon zu ihrer täglichen Routine der ständig nörgelnden Miss Bertha das Essen durch ungeliebte Beigaben zu vermiesen), doch wird das alles wettgemacht durch das Interesse, das sie den Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart entgegenbringt, für die niemand sonst eintritt.
Sie beschäftigt sich mit Kriminalfällen, die entweder nicht als solche erkannt oder bereits oberflächlich (und falsch) gelöst wurden, weil ihr das Schicksal der Beteiligten am Herzen liegt, derer, die nicht mehr für sich selbst sprechen können oder freiwillig darauf verzichten.

Hier geht es nicht um Action - es geht immer und zuallererst um Menschen.
Egal ob als Opfer, Täter, unbeteiligte Beobachter - oder alles zusammen.
Manche sind schwerfällig, andere schlauer, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Sie alle haben eine Geschichte, haben Erinnerungen, an denen sie Emma - und dadurch den Leser - teilhaben lassen, bis die Vergangenheit so plastisch wird, dass man glaubt, die längst verklungene Musik im alten abgebrannten Ballsaal zu hören, gedämpft nur durch die raschelnden Röcke der Tanzenden.

So zieht sich die Spannung durch bis zum Schluss - immer neue Aspekte treten auf, lassen bisherige Ereignisse in ganz anderem Licht erscheinen ... und schaffen Verwirrung, wo man sich doch der Klarheit ganz sicher war.

Das Ende kommt abrupt - und verstört.
Gleichzeitig weckt es die Hoffnung auf einen weiteren Band - für die Autorin ihre Fans hoffentlich nicht wieder fünf Jahre auf die Folter spannt, wie dies zwischen Band zwei und drei der Fall war.
Andererseits ... andererseits ist vielleicht gerade dieses Ende dazu geeignet, den Leser eine gewisse Demut zu lehren. Ihm die Erkenntnis zu bringen, dass das Zusammentreffen mit all diesen wundervollen Charakteren des Spirit Lakes viel mehr wiegt als die "Lösung" eines Falles, der möglicherweise viel komplizierter ist als das, was sich auf gut 400 Seiten darstellen lässt ...

Notfalls heißt es in der Zwischenzeit noch einmal alles von vorn lesen - am besten gleich alle drei Bände ...

Miss Sophie