Jussi Adler-Olsen Hannes Thiess
Erbarmen

Original: Kvinden i buret
(1.Band Carl Mørck)
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess
dtv premium Broschur
ISBN 978-3-423-24751-1

Und dann kam die Angst wie ein schleichendes Gift ...

Die verzerrte Stimme kam aus einem Lautsprecher irgendwo im Dunklen: "Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag, Merete. Du bist jetzt hier seit 126 Tagen, und das ist unser Geburtstagsgeschenk: Das Licht wird von nun an ein Jahr lang eingeschaltet bleiben. Es sei denn, du weißt die Antwort: Warum halten wir dich fest?"

Am 2. März 2002 verschwindet eine Frau spurlos auf der Fähre von Rødby nach Puttgarden, man vermutet Tod durch Ertrinken.
Doch sie ist nicht tot, sondern wird in einem Gefängnis aus Beton gefangen gehalten.

Wer sind die Täter?
Was wollen sie von dieser Frau?
Und: Kann ein Mensch ein solches Martyrium überleben?

Rezension:
Ein schlecht gelaunter Polizist, bis zu seinem "Arbeitsunfall" brillanter Ermittler, nun einer, den man möglichst schnell aus der Truppe entfernen muss, weil niemand mit ihm zusammenarbeiten möchte.
Wie gut, dass sich die Möglichkeit bietet, ihn wegzuloben - indem man ihn zum Chef des Sonderdezernats Q macht. Zwar ohne Mitarbeiter und mit einem Büro im Keller, aber dafür weitgehend autonom.

Eine Politikerin, kompromisslos, gut aussehend, auf dem besten Weg nach ganz oben, die von einem Moment auf den nächsten spurlos verschwindet.
Ein ungelöster Fall, jahrelang ad acta gelegt, bis ... ja bis sich die Schicksale von Carl Mørck und Merete Lynggaard kreuzen.

Was dann kommt, ist Hochspannung pur!
Durch kontinuierliche Perspektivenwechsel wird der Leser hineingezogen in das Leben des eigenbrötlerischen Carl auf der einen und das alptraumhafte Geschehen rund um Merete auf der anderen Seite.
Jahrelang wird sie in einer Überdruckkammer gefangen gehalten, der Willkür von gesichtslosen Entführern ausgesetzt. Mal komplett im Dunkeln, dann wieder in gleißender Helligkeit, mit nichts als ihren bohrenden Gedanken und nicht dem Schimmer einer Ahnung, aus welchem Grund man ihr das angetan hat.
Klar, mögliche Motive gibt es bei einer erfolgreichen Politikerin, die ihr Privatleben und vor allem den behinderten Bruder vor der Öffentlichkeit verborgen gehalten hat, sicher genug. Und Verbrechen wurden auch schon aus verschmähter Liebe begangen ...

Einfach grandios, wie sich die Geschichte entwickelt, an Tempo gewinnt, während Carl längst erkalteten Spuren nachgeht und versucht, frische Hinweise zu finden. Viele alte und neue Seilschaften gewinnen an Profil und werden zu logisch passenden Puzzleteilchen in diesem auf zwei Ebenen erzählten Drama, in dem sich Spannung und skurriler Humor alternieren.
Besondere Erwähnung gebührt an diesem Punkt Übersetzer Hannes Thiess, dem es gelungen ist, die zahlreichen Wortspiele lebendig und passend ins Deutsche zu übertragen, schärft er doch auf diese Weise die Konturen der Figur Assad, jenem wichtigen Side-Kick, von dem der Leser noch sehr viel erfahren möchte.
Viel zu lange musste man in herkömmlichen Polizeiromanen auf eine solch schräge Type wie den Syrer mit dem Doktortitel, der sich statt der ihm zugewiesenen Reinigungsarbeiten und Fahrertätigkeit viel lieber mit den Akten des Chefs beschäftigt, verzichten. Charmanter Frauenversteher und nachgerade genialer Ermittler zugleich ist der Mann auch dann nicht zimperlich, wenn es um physische Auseinandersetzungen geht. Nur seine Ausdrucksweise lässt zuweilen ein wenig zu wünschen übrig ...

Auch Protagonist Carl unterscheidet sich in mancher Hinsicht von seinen skandinavischen Polizei-Kollegen: Der Schicksalsschlag, der ihn getroffen hat (im Dienst schwer verwundet zu werden und zwei Kollegen und Freunde zu verlieren), ist zwar Begründung genug für seinen desolaten Gemütszustand.
Dennoch versinkt er nicht komplett in Melancholie - dazu ist der Rest seines Lebens und der Reigen der ihn umgebenden Mitmenschen viel zu chaotisch: Die weggelaufene Ex-Frau, von der er trotz ihrer vielen Liebhaber und der Tatsache, dass sie ihn unendlich nervt, nicht lassen kann, weswegen er sie nach wie vor finanziert. Der bei ihm lebende rebellische Teenager-Ziehsohn, den es gilt, irgendwie durch die Oberstufe zu bringen. Der Untermieter, ein ewiger Student mit Haushaltsgen. Und natürlich nicht zu vergessen, die Schar der grillwütigen Nachbarn, mit denen sich der bei der Arbeit so griesgrämige Carl bestens versteht.

Wahrscheinlich ist es diese Mischung aus auf den ersten Blick völlig gegensätzlichen Elementen, die die Faszination des ersten Carl Mørck-Bandes ausmachen.
Die Handlung ist spannend und löst streckenweise absolut beklemmende Gefühle auch bei der Leserschaft aus.
Die menschlichen Konflikte - aalglatte Vorgesetzte, deren Zielsetzung sich nicht notwendigerweise mit dem deckt, was für die Mitarbeiter oberste Priorität hat, Konkurrenzdenken innerhalb der verschiedenen Abteilungen (quer über alle Berufsgruppen), das Verantwortungsbewusstsein gegenüber der eigenen Familie und den Freunden ... - sind nachvollziehbar und bekanntes Terrain für die meisten Leser.
Die unorthodoxen Methoden des Protagonisten, zuweilen hart an der Grenze der Legalität, machen ihn umso sympathischer.

Kurzum: Von dieser Truppe möchte man mehr lesen. Und zwar bald!

Miss Sophie