Das Buch direkt bei Amazon bestellen Silvia Roth
Schattenriss

(3. Band)
Hoffmann und Campe gebunden
ISBN 978-3-455-40195-0

Die Täter schlagen kurz vor Schalterschluss zu. Schwer bewaffnet stürmen sie die Sparkassenfiliale in der Wiesbadener Innenstadt, erschießen einen Kassierer und nehmen die übrigen Bankangestellten und Kunden als Geiseln.
Unter ihnen befindet sich zufällig auch Kommissarin Winnie Heller.
Doch warum haben es die Männer auf den Filialleiter abgesehen, der gerade auf Dienstreise ist? Und warum nennen sie ihn "Malina" anstatt bei seinem richtigen Namen?
Die Gangster verschanzen sich mit ihren Geiseln schließlich in einer stillgelegten Fabrik. Während Kommissar Hendrik Verhoeven und die Sonderkommission fieberhaft versuchen, die geheimnisvolle Identität Malinas zu klären, erschießen die Entführer kaltblütig die erste Geisel.
Für die Gefangenen beginnt ein Albtraum.

Rezension:
Eine alte Dame kämpft mit aller Macht gegen das Erinnern - so beginnt der Roman, der den Leser ab dem ersten Kapitel so fasziniert, dass er sich nicht lösen kann, bevor nicht die letzte der 542 Seiten erreicht ist.

Auch andere der Figuren im Buch würden vieles aus ihrer Vergangenheit lieber heute als morgen vergessen - oder versuchen, sich mit ihr auszusöhnen, was teilweise schwer bis unmöglich ist.

Das gilt auch für die Hauptfiguren:
Winnie Heller, die seit dem Tod ihrer Schwester (die nach einem Unfall sieben Jahre lang im Wachkoma gelegen hatte) nicht mehr mit ihren Eltern spricht und außerdem noch schwer an den Nachwirkungen eines noch gar nicht allzu lange zurückliegenden Überfalls mit Fast-Vergewaltigung trägt.
Hendrik Verhoeven, den die Erinnerung an seine Kindheit und Jugend in einer Pflegefamilie umtreibt.

Die Kommunikation zwischen den beiden ist alles andere als einfach - obwohl sie sich in gewisser Weise sympathisch sind, finden sie doch keine gemeinsame Sprache.
Paradoxerweise verändert sich das erst in dem Moment, als Winnie physisch gar nicht (mehr) anwesend ist, da sie sich in den Händen brutaler Geiselnehmer befindet. Statt sich wie bisher an der Kollegin zu reiben, muss Hendrik abschätzen, wie sie sich wohl in dieser Extremsituation verhalten wird. Dazu ist er gezwungen, so viel als möglich über die 28jährige zu erfahren. Er muss ihre Freunde, ihre Neigungen, ihre Wohnung kennen lernen, ja sogar ihre Fische füttern. Dies alles bringt sie ihm sehr viel näher als es der direkte Kontakt in den anderthalb Jahren ihrer bisherigen Zusammenarbeit je vermocht hatte.

Von daher ist "Schattenriss" eigentlich ein Roman über persönliche Beziehungen.

Ihren schrecklichen Auftakt finden diese beim Bankraub mit Geiselnahme, in den Winnie zufällig hineingerät. Die vermummten Täter gehen mit so unglaublicher Kaltblütigkeit vor, dass es allen Beteiligten (inklusive dem Leser) schwer fällt, die Menschen hinter den Masken zu sehen. Und doch wird nach und nach klar, dass es, schwerwiegende Hintergründe und Motive gibt - die aber natürlich in keinem Fall die Ermordung von Menschen rechtfertigen.

Die Beziehungsebene zieht sich auch durch beide Settings, zwischen denen die Autorin gekonnt hin- und herwechselt:

Hier die Geiseln und ihre Entführer - völlig unterschiedliche Persönlichkeiten, die von jetzt auf gleich eine Notgemeinschaft bilden, in der sie aufeinander angewiesen sind.
Dabei wird schnell klar, dass keiner weiß, wie sehr er sich wirklich auf ein besonnenes Handeln der anderen verlassen kann, das letztendlich für ein Überleben unabdingbar ist, weswegen sie sich lange Zeit gegenseitig nicht über den Weg trauen.

Dort die Polizeibeamten - Winnies direkte Kollegen und Vorgesetzte, sowie auf Geiselnahmen spezialisierte Unterhändler und Psychologen, nicht zu vergessen das BKA.
Statt gemeinsam um ein möglichst unblutiges Ende der Sache zu kämpfen, behindern sich die beteiligten Beamten teilweise erheblich gegenseitig. Eiskalte Karrieristen, die nur darauf bedacht sind, sich zu profilieren, sabotieren rücksichtslos die Bestrebungen der anderen. Immer wieder kommt es zu, teilweise verhängnisvollen, Alleingängen. Die Anspannung, in der sich alle miteinander befinden, ist fast greifbar.

Unglaublich temporeich ist die Geschichte - und zunächst sehr undurchsichtig. Der Leser ahnt vieles, und doch bleiben die konkreten Beweggründe vieler Beteiligter lange im Dunkeln.
Was aber immer deutlicher - und sehr schmerzhaft mitzuerleben ist: Das Ringen um eine Identität, dort, wo sich Persönlichkeiten - durch das Schicksal, fremde Hand oder eigenes Zutun - aufgelöst haben.
Egal, ob es dabei um eine Kindheit im Heim, den jahrelangen Aufenthalt in der Psychiatrie oder ein komfortables, aber inhaltsleeres Leben an der Seite eines reichen Ehemannes geht - immer geht es darum, Vergangenes zu vergessen oder zu verdrängen.

Am Ende jedoch, bei und nach dem atemberaubenden Showdown, kommt der wahre Moment der "Abrechnung", der Punkt, an dem sich alle ihrer Vergangenheit und den damit verbundenen Ängsten stellen müssen.
Das und erst das ist der wahre Schlusspunkt der Ereignisse - und in mehr als einem Punkt vielleicht der Auftakt zu einem (oder vielleicht sogar mehr??) weiteren Fall rund um das Team Verhoeven/Heller.
Man möchte es der deutschen Krimilandschaft wünschen!

Miss Sophie