Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jeffery Deaver Thomas Haufschild
Allwissend

Original: Roadside Crosses
Aus dem Amerikanischen von Thomas Haufschild
(2. Band Kathryn Dance)
Blanvalet gebunden
ISBN 978-3-7645-0336-9

Am Straßenrand steht ein Kreuz mit roten Rosen: zum Gedenken an einen Autounfall. Das Todesdatum: morgen. Und tatsächlich entdeckt die Polizei am nächsten Tag eine junge Frau gefangen in einem Kofferraum - nur Sekunden trennen sie vom Tod. Ihr Peiniger wusste offensichtlich, dass sie unter schwerer Klaustrophobie litt.
Die Verhörexpertin und psychologische Ermittlerin Kathryn Dance erkennt als Erste, dass der Mörder es darauf abgesehen hat, die schlimmsten Ängste seiner Opfer wahr werden zu lassen.
Und weitere Kreuze kündigen weitere Morde an ...

Rezension:
Der spannende Anfang - ein Mordversuch durch einen schnell entlarvten Täter, wird, wie von Kathryn Dance und ihren Kollegen befürchtet, gefolgt von weitere Gewaltverbrechen.
Gemeinsamer Nenner aller Ereignisse: Das Internet, genauer gesagt, die Veröffentlichung von Kommentaren im Blog eines regional renommierten, aber nicht unumstrittenen Journalisten.
Wie es in der Welt des Internets schnell geschieht, hat die bloße Erwähnung eines schrecklichen Verkehrsunfalls, bei dem zwei Mädchen starben, eine Eigendynamik entwickelt und sich im Handumdrehen in eine Hetzkampagne gegen "DEN FAHRER" verwandelt.

Während dieser nun fieberhaft gesucht wird, geschieht etwas Unfassbares:
Kathryns Mutter wird unter Mordverdacht verhaftet.

Das Dilemma, in dem sich die junge Ermittlerin befindet, ist schnell offensichtlich:
Ihr Team ist auf die Expertise der Kinesik-Fachfrau angewiesen, um die Körpersprache von Zeugen und Verdächtigen zu analysieren und möglichst schnell Ungereimtheiten aufzudecken - gleichzeitig müsste sie eigentlich ihre Angehörigen beistehen.
Dieser permanente Konflikt macht die Ermittlungsarbeit nicht leichter - vor allem, als klar wird, dass Zeit eine große Rolle spielt, weil noch viel mehr Menschen in Gefahr sind als ursprünglich angenommen ...

Und so geht es, auch für die Protagonistin selbst, um die Beziehung innerhalb der eigenen Familie - um Liebe, Vertrauen, aber auch darum, wessen man die für fähig hält, die man am besten zu kennen glaubt.

Auf der anderen Seite handelt der Roman von Teenagern, die sich in der virtuellen Welt mehr zu Hause fühlen als in den echten eigenen vier Wänden. Die sich eine neue Persönlichkeit erschaffen, die all die Eigenschaften beinhaltet, die sie selbst nicht besitzen: Intelligenz, gutes Aussehen, Stärke, Beliebtheit, Einfluss und Macht ...

Nicht zuletzt steht die (vorgebliche) Anonymität des Internets am Pranger - mitsamt dem, was sie auslöst: Das Sinken aller Hemmschwellen.
Sehr hellsichtig und deutlich zeigt der Autor dabei die unterschiedlichen Kategorien von "Freizeit-Kommentatoren" auf:
- die Racheengel (Heuchler mit dem Selbstverständnis einer Bürgerwehr)
- die Machthungrigen (typische Schulhofbullies, die andere kontrollieren, indem sie sie drangsalieren)
- böse Mädchen (die gern auf anderen herumhacken, weil es ihnen Spaß macht)
Und es stellt sich immer wieder die Frage: Darf im Namen der Meinungsfreiheit jeder ohne Rücksicht auf Verluste alles posten und äußern, selbst wenn er dadurch Hetzkampagnen aller Art Vorschub leistet? Wo fängt Zensur an - und wo hört die soziale Verantwortung auf?

Wenn in Deavers Geschichte immer mehr Menschen dem Killer zum Opfer fallen, deren einziges "Vergehen" darin bestand, sich in einem Blog geäußert zu haben, dann werden sich nicht nur vereinzelte Internetnutzer die Frage stellen müssen, ob sie selbst nicht schon einmal im Eifer des Gefechts die nötige Sorgfalt bei der Wahl ihrer Worte vermissen ließen und daher ganz leicht ebenfalls als potentielle Opfer in Frage kämen.
Und wenn nach und nach zutage tritt, dass sowohl der Täter als auch seine Jäger sehr konkrete Details über die anonymen Schreiber durch die einfache Verknüpfung von Informationen in verschiedenen Netzwerken und Plattformen erlangen konnten, dann wird manch einer mit dem Unwohlsein kämpfen müssen, mit seiner letzten Facebook-Statusmeldung zu viel über sich selbst preisgegeben zu haben.

Für alle, die sich nicht ganz so versiert in der Cyberwelt bewegen, führt Deaver in einer Nebenhandlung den Computerspezialisten Jonathan Boling ein, der Dancer einige grundsätzliche Dinge zum Umgang mit dem Netz ausführlich erläutert und so auch den Leser auf einen entsprechenden Wissensstand bringt.
Naturgemäß führen diese Erklärungen dazu, dass der Roman ein wenig langsamer Fahrt aufnimmt als andere Thriller desselben Autors, was sich aber im Verlauf der fast 550 Seiten schnell gibt.

Fakt ist: Deaver hat es auch diesmal allen gezeigt!
Der ersten Lösung folgt eine zweite, dritte, vierte ... - zusätzliche Komplikationen stellen sich ein, zahlreiche Beteiligte haben unlautere Motive für ihre Handlungen, die den Ermittlern bestenfalls Knüppel zwischen die Beine werfen und schlimmstenfalls zum Tod Unschuldiger führen.
Immer wieder geht es um Familienbande, um Liebe, um bis ins Mark erschütterte Menschen, die bloßgestellt und zu irrationalen Handlungen getrieben werden, aber auch um Geld, Politik, Macht und Einflussnahme.

Wie man es dreht und wendet: So wie Kathryn Dance in Mimik und Gestik der Verdächtigen liest wie in einem offenen Buch, weiß ihr Schöpfer haargenau, welche Mittel er wie einsetzen muss, um den Leser gedanklich in jede gewünschte Richtung zu lenken und ihn am Ende doch komplett zu überraschen.

Wenn einer "Allwissend" in Sachen Spannungsaufbau und erstklassiger Unterhaltung ist, dann dieser Mann: Jeffery Deaver!

Miss Sophie