Karin Slaughter Klaus Berr
Entsetzen

Original: Fractured
(2. Band Will Trent)
Deutsch von Klaus Berr
Blanvalet gebunden
ISBN 978-3-7645-0344-4

Noch auf der Schwelle zu ihrem Zuhause sieht Abigail Campano die Glasscherben. Den blutigen Fußabdruck auf dem Dielenboden. Und den Mann, der sich über den leblosen Körper eines Mädchens beugt. Ihre Tochter!
Sie stürzt sich auf ihn, bringt ihn zu Fall, und in einem erbitterten Kampf um Leben und Tod erwürgt sie ihn.
Das Mädchen, sieht sie, wurde erschlagen. Der Körper ist mit Bisswunden und Prellungen übersät.
Doch es ist nicht ihre Tochter Emma, sondern deren beste Freundin Kayla. Emma ist wie vom Erdboden verschluckt.
Special Agent Will Trent weiß: Die Chance, das Mädchen lebend zu finden, wird von Stunde zu Stunde geringer. Doch noch entsetzlicher ist die Vorstellung, dass der sadistische Täter ungeschoren davonkommen könnte ...

Rezension:
Der Auftakt - ein Szene so archaisch und brutal, dass man versucht ist, dem Buch einen dicken Aufkleber "Geeignet für Leser über 16 Jahren" zu verpassen.
Gleichzeitig aber ist der Kampf einer Mutter, die ihre 17jährige Tochter im eigenen Blut liegend auffindet und nur noch vom Gedanken an Vergeltung beseelt ist, so atmosphärisch dich und förmlich Herz zerreißend, dass der Leser sofort mitten in den Roman hineingezogen wird und bis zur letzten der mehr als 500 Seiten nicht mehr aussteigen kann.

Denn sobald klar wird, dass Tote nicht Abigails Tochter und der Mann, den die vor Verzweiflung fast wahnsinnige Frau mit bloßen Händen stranguliert hat, nicht der Mörder des massakrierten Mädchens war, geht eine temporeiche Geschichte los, deren zahlreiche Wendungen und Verwicklungen die Leser fast schwindlig machen.

Es geht um Entführung, um einen Wettlauf gegen die Zeit und der Mann für diese Fälle ist Special Agent Will Trent.
Doch nicht allein soll er sich darum kümmern, Emma möglichst lebend wiederzufinden. Dem Einzelgänger par excellence, der schon seit den lange vergangenen Tagen seiner Kindheit im Heim niemandem mehr traut und keinen an sich heranlässt, wird eine Partnerin zugewiesen. Nicht nur, dass er die Polizistin an diesem Tag zum ersten Mal sieht, nein, sie hegt auch noch einen gewaltigen, persönlichen Groll auf ihn, der im Zusammenhang steht mit Wills internen Ermittlungen gegen das Atlanta Police Department und den darauffolgenden Entlassungen.
Das macht die Zusammenarbeit nicht einfacher - doch Mitdreißiger Will ist genauso Profi wie die wenige Jahre jüngere Faith, weswegen die beiden sich voller Elan in den Fall stürzen.

Die Tage danach vergehen - für die Ermittler wie den Leser - wie im Rausch.
Ein Taumel der Emotionen packt alle Beteiligten, wenn wieder ein neues Puzzleteil auftaucht, während sich herausstellt, dass das Opfer kein freundliches, unschuldiges Mädchen, sondern ein Teenager mit einer Menge Feinden war.

An der Schule der beiden Opfer ebenso wie an der Uni, an der der dritte Beteiligte gerade sein Studium begonnen hatte, stellt das ungleiche Polizistenduo seine Fragen.
Ein ums andere Mal tritt Will Trent verbal ins Fettnäpfchen, während er sich verzweifelt bemüht, sein großes Geheimnis vor seiner Partnerin und der restliche Umwelt zu wahren. Doch auch Faith hat das eine oder andere zu verbergen, wodurch die Gespräche und Handlungen der beiden zuweilen ein rechter Eiertanz sind.
Immer mehr spitzt sich die Situation zu, während der Kreis der Verdächtigen immer enger wird - der Tathergang kann nach und nach rekonstruiert werden, doch immer noch eine Spur von Emma. Und die Zeit rinnt davon...

Was für eine Achterbahnfahrt!
Action durchsetzt mit erstklassiger, systematischer und nachvollziehbarer Polizeiarbeit, während bei allen die Nerven blank liegen und die Verzweiflung und Einsamkeit vieler Figuren so greifbar ist, dass es schon beim Lesen schmerzt.

Die Animositäten zwischen örtlicher und Staatspolizei sind nicht schön - aber Realität. Und Trent, der seine Chefin stets verteidigt, obwohl sie, zumindest auf den ersten Blick, ein machtgieriges, kaltes Geschöpf ohne Freunde ist, verdient für diese Hingebung an die Pflicht schon dafür fast einen Orden.

Die persönlichen Beziehungen der Figuren - Wills Vergangenheit wird ebenso lebendig wie die von Faith -, ihre wechselseitigen Abhängigkeiten, all das gibt dem Roman einen zusätzlichen Kick.
Dazu kommen private Probleme auf beiden Seiten.

Die Handlung ist stringent, die Spannung kontinuierlich weit oben.
Dennoch gelingt es der Autorin, ihre Figuren mit diesem ganz speziellen trockenen Humor zu versehen, die den Charakteren auch unter widrigen Bedingungen Kraft geben, die Situation zu bewältigen.

Will Trent eckt an und ist immer unvorhersehbar - und das schließlich unterscheidet ihn von Karin Slaughter:
Wo auch immer DIESER Name draufsteht, ist ausgesprochen vorhersehbar erstklassiger Thrill, gepaart mit Ironie drin.

Miss Sophie