Das Buch direkt bei Amazon bestellen Beatrix Mannel
Die Hexengabe

Diana TB
ISBN 978-3-453-35425-8

Nürnberg 1697:
Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur allzu gerne loswerden.
Doch Rosa ringt dem Rat der Stadt ein Ultimatum ab: Gelingt es ihr, binnen zwei Jahren ihren Neffen, den einzigen männlichen Erben, aus Ostindien zu holen, darf die Familie die Spielkartendruckerei des Vaters weiterführen.
Auf der gefahrvollen Reise leistet ausgerechnet ihr sechster Finger wertvolle Dienste - denn mit seiner Hilfe kann Rosa erkennen, wenn jemand lügt ...

Rezension:
Die Heldin ist jung, schön, schüchtern und mit einer "Gabe" gesegnet, die manch einer - nicht zuletzt die Nürnbergerin selbst - eher für einen Fluch halten würde: Sie besitzt einen zusätzlichen kleinen Finger an der linken Hand.
Obschon die 16jährige diesen so gut wie immer in einem Handschuh versteckt hält, ist seine Existenz doch in der ganzen Stadt bekannt, was Rosa zu einer Außenseiterin macht.

Zum Glück kennen ihre Mitbürger aber nicht das ganze Ausmaß der Geschichte, denn wenn dieser Finger kalt wird, dann ist dies ein untrügliches Anzeichen für eine Lüge.
Leider passiert dies sehr häufig, denn viele Menschen wollen der Halbwaise und ihrer Familie Übles. Zuerst der Rat, der sich aus angesehenen Bürgern der Stadt zusammensetzt, von denen jedoch mindestens einer ein finsteres Geheimnis hat und nur zu gern die Existenz der Zapfs zerstören möchte.
Aber auch die Gefährten auf ihrer langen und gefahrvollen Reise in einen anderen Kontinent sind teilweise sehr zwielichtige Gestalten, vor denen sich das Mädchen besser in Acht nehmen sollte.

Andererseits hat Rosa keine Wahl: Sie muss die Fahrt antreten und über Kap Horn nach Indien und wieder zurück zu Ende führen, muss ihren kleinen Patensohn vor dem Rat präsentieren, denn sonst fallen das vom Vater erschaffenen Haus und Unternehmen für kleines Geld an ihren größten Konkurrenten.

Also macht sich das unbedarfte Mädchen, das seiner Lebtag noch nicht weiter als bis zu den Toren Nürnbergs gekommen ist, auf eine äußerst ungewissen und viele tausend Kilometer lange Reise, auf der ihr allerlei Ungemach und sogar brutale Gewalt begegnen, aber auch echte Freundschaft und sogar die Liebe.

Diese Heldin wider Willen muss mit ansehen, wie einige ihrer Beschützer und treuen Gefährten ihr Leben lassen, um sie zu verteidigen. Sie wird geschändet, verfolgt, als Kuriosität auf dem Jahrmarkt präsentiert, immer wieder schwer verletzt, verunstaltet, betrogen und später wie eine Heilige verehrt.
Obwohl es der jungen "Zapfin" zutiefst widerstrebt, lernt sie sogar, zu töten, um sich zu verteidigen.

Im Handumdrehen erobert sich das tapfere Geschöpf die Herzen seiner LeserInnen: Auch wenn sich Rosa zuweilen sehr unerschrocken gibt, aufmüpfig spricht und in Krisensituationen stets ihre Frau steht, wird deutlich, dass sie sehr wohl Ängste kennt und sich zuweilen zutiefst menschlich, und daher egoistisch verhält.
Vom Vater hat sie in mancher Hinsicht die Spielernatur geerbt - doch gerade das bringt die junge Frau zuweilen in große Gefahr.

Wie gut, dass es dann Menschen gibt, die ihr zur Seite stehen:
Hier ein freundlicher Italiener, dort eine weise und gütige armenische Zigeunerin, der das Schicksal ebenfalls schlimm mitgespielt hat, diverse Seeleute und sogar eine indische Heilerin.

Nicht zu vergessen, die zweite Protagonistin, eine seit Jahren als Haremsdame gefangene Christin, deren in Ich-Form erzählte Geschichte sich nach und nach mit der Haupthandlung verwebt.

Das Gegengewicht dazu bilden die - ebenfalls in Ich-Form erzählten - Machenschaften des niederträchtigen Finsterlings, dessen niederträchtige Intrigen buchstäblich bis zum allerletzten Moment Rosas Mission und ihr eigenes Leben gefährden ...

Man weiß wirklich nicht, ob man sie loben oder schelten soll, die Frau Mannel ;-)
Da hat sie nun diesen farbenprächtigen, hochspannenden, emotional bewegenden und gleichzeitig informativen historischen Roman verfasst - und hört einfach nach "nur" 550 Seiten auf!
Dabei hatte man sich doch gerade so sehr an Rosa und ihre Freunde gewöhnt, ja sogar an all die Feinde, die ihr sämtliche nur denkbaren Steine in den Weg legen!
Ein oder zwei weitere Verwicklungen wären da doch wirklich noch möglich gewesen, oder?!
Zumal wenn man bedenkt, WIE akribisch sich die Autorin vorbereitet und in die von ihr beschriebene Materie eingearbeitet hat: Nicht weniger als 35 (Fach-) Bücher listet sie in den Quellenangaben auf, noch nicht eingerechnet die Recherchen vor Ort und die persönlichen Gespräche mit Experten für das Spielkartenwesen, sowie die armenische und indische Kultur.

Allerdings fließen die gewonnen Informationen so geschickt in die Handlung ein, dass der Leser keinen einzige Augenblick das Gefühl hat, belehrt zu werden - und doch hinterher seinen Horizont um zahlreiche armenische Wörter und Weisheiten, sowie ein großes Wissen um die Vorgänge in einem Harem des Großmoguls erweitert haben wird.

Ein Roman zum atemlos mitfiebern, mitweinen und mitlachen.
Mit einer Handlung, bei der sich Karl Mays Seefahrerabenteuer und "Die Geschichten von 1001 Nacht" treffen.
Und Figuren, von denen man jede einzelne - so irregeleitet und stellenweise ungerecht sie auch sein mag - ins Herz schließt und nicht mehr hergeben mag.

Miss Sophie