Das Buch direkt bei Amazon bestellen Karin Slaughter Klaus Berr
Tote Augen

Originaltitel: Undone / Genesis
(1. Band Georgia)
Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr
Blanvalet TB
ISBN 978-3-442-37478-6

Als Krankenhausärztin in Atlanta, Georgia, versucht Dr. Sara Linton, ihr Leben neu zu ordnen.
Doch als es zu einer Reihe grausamer Folterungen und Morde kommt, kann die ehemalige Rechtsmedizinerin aus dem Grant County nicht länger tatenlos zusehen.
Sie schaltet sich in die Ermittlungen von Will Trent und Faith Mitchell vom Georgia Bureau of Investigation ein, auch wenn die Ereignisse schmerzhafte Erinnerungen in ihr wecken, die sie eigentlich hinter sich lassen wollte …

Rezension:
Slaughter wäre nicht Slaughter, ließe sie nicht auch diesen Roman mit unfassbarem Grauen beginnen.
Zwei alte Herrschaften, auf dem Heimweg nach einem Besuch beim Sohn und dessen Familie haben in der Dämmerung in einem Waldstück einen Unfall. Doch das, was sie für ein Reh gehalten haben, ist eine junge Frau. Grauenvoll zugerichtet – und das nicht durch den Zusammenstoß mit dem Auto.
Wider Erwarten lebt die Unbekannte noch, weswegen sie in die Notaufnahme gebracht wird, wo sich Sara Linton und Will Trent zum ersten Mal begegnen.

Auf diese Weise beginnt eine der aufregendsten Reihen einer der erfolgreichsten Krimiautorinnen unserer Tage.
Die damit etwas tut, was nur wenige KollegInnen ihrer Zunft wirklich gut können: Das Verweben und dann sogar Verschmelzen von zwei Serien.

Die erste, die sich über einen Zeitraum von circa sechs Jahren (und ebensovielen Bänden) erstreckt und die Ereignisse um den dortigen Polizeichef Jeffrey Tolliver und seine erst-Ex-dann-wieder-Ehefrau Sara Linton schildert, sowie die zweite, die seit (zu diesem Zeitpunkt) bisher zwei Bänden in Atlanta spielt, dem Einsatzort von Special Agent Will Trent, der zusammen mit Kollegin Faith Mitchell bei der übergeordneten Staatsbehörde GBI arbeitet. Diese schaltet sich immer dann ein, wenn ein Verbrechen mehrere Regierungsbezirke betrifft.
Was, wie ziemlich schnell klar wird, beim aufgefundenen Folteropfer der Fall ist.
Und da Sara die Erstversorgung übernommen hat, ist sie plötzlich mit im Boot.

Die Ereignisse überstürzen sich, als deutlich wird, dass der sadistische Täter (oder die Täterin) mehr als eine Frau in seine Höhle geschleppt und gequält hat, und eins oder mehrere der Entführungsopfer noch leben könnten.

Wie in jedem Fall, in dem das GBI zum Einsatz kommt, gilt es, alte Animositäten und unnötige Hemmnisse zu überwinden. Eine Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden ist mehr als schwierig, Informationen werden zurückgehalten oder verschleppt.
Selbst Will, im Normalfall die personifizierte Höflichkeit, wird unter diesen Umständen extrem gereizt.

Hinzu kommt, dass ihm seine Kollegin lange Zeit etwas ebenso Entscheidendes wie Persönliches verheimlicht, während die Chefin ihn wie üblich drangsaliert und auch das Verhältnis zu seiner Ehefrau Angie (früher bei der Sitte, jetzt freiberufliche Detektivin) nur gelinde gesagt als extremes Wechselbad der Gefühle bezeichnet werden kann.
Kein Wunder also, dass dieser lange, schmale, stets elegant gekleidete Mann sich zu Sara hingezogen fühlt.
Einer Frau, die selbst dreieinhalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes noch so am Boden zerstört ist, dass sie alles daran setzt, möglichst wenige Bindungen entstehen zu lassen. Weder bei der Arbeit (wo allein schon die Belastung einer Notaufnahme dies begünstigt) noch auf privater Ebene.

Und so wächst, zwischen grauenvollen Details von Verstümmelungen und Mißhandlungen, verstörten Polizisten, überforderten Ärzten und dem obligatorischen Wettlauf gegen die Zeit, ein zartes Pflänzchen von Zuneigung zwischen zwei Menschen, die beide mit ihren ganz persönlichen Narben auf Leib und Seele gezeichnet sind.
Seine fürchterlichen Erlebnisse als in staatlicher Fürsorge groß gewordenes Findelkind enthüllt ihr Will ebensowenig wie sein größtes Handicap.
Im Gegenzug hält auch Sara alles zurück, was auf die Gewalt hindeuten könnte, die sie in der Vergangenheit erfahren mußte.
Wie sich die Dinge noch entwickeln werden, bleibt dabei offen.

Der Fall, wie nicht anders zu erwarten, wird gelöst – nicht ohne den obligatorischen Nerven zerfetzenden Showdown, nach dem das Leben einiger Beteiligter auf Messers Schneide steht.
Die Auflösung lässt, wie ganz oft in Slaughters Romanen, bei der Leserschaft ein unglaublich schales Gefühl zurück, denn es wird ganz deutlich: Hier geht es um Menschen, die sich gegenseitig benutzen, so wie sie selbst benutzt wurden. Die aber andererseits auch eine Wahl gehabt hätten, die schrecklichen Ereignisse nicht geschehen zu lassen. Die teilweise einfach nur abgrundtief böse sind – und streckenweise durch das Leben, IHR Leben, kalt und gefühllos gemacht wurden.

Wenn dann nach mehr als 570 Seiten das Buch zu Ende ist, fühlt man sich fast leer. Einerseits froh, einem Ambiente von definitiv ziemlich viel schlechtem Karma entronnen zu sein und gleichzeitig mit der ziehenden Sehnsucht, noch viel mehr von Sara, Will und Faith zu hören.
Zumindest dieser letzte Wunsch kann dank der diversen Folgebände auch erfüllt werden.

Miss Sophie