Das Buch direkt bei Amazon bestellen Edney Silvestre Kirsten Brandt
Der letzte Tag der Unschuld

Originaltitel: Se eu fechar os olhos agora
Aus dem Portugiesischen von Kirsten Brandt
Limes gebunden
ISBN: 978-3-8090-2618-1

Brasilien, 1961.
An dem Tag, an dem Juri Gagarin die Erde umrundet, ändert sich das Leben von Paulo und Eduardo für immer.
Es sollte ein schöner Nachmittag werden – faul am See statt schwitzend in der Schule –, bis sie am Ufer die Leiche einer Frau entdecken.
Für die Polizei ist der Fall schnell gelöst: Der Ehemann ist der Täter – war das Opfer doch, wie jedermann zu wissen schien, eine Ehebrecherin.
Die beiden Jungen glauben aber nicht daran und fangen an, selbst zu ermitteln.
Zu ihnen gesellt sich ein alter Mann, der einst von der Geheimpolizei gefoltert wurde und mehr über die Stadtbewohner weiß, als er zugibt.
Es ist der Beginn einer ungewöhnlichen Freundschaft – und einer gefährlichen Suche …

Rezension:
Zwei Freunde, 12, fast 13 Jahre alt und jeder für sich arm dran.

Die Mutter von Paulo ist gestorben. Sie war so schwarz wie er, der vom Vater, einem Metzgermeister, deswegen regelmäßig verprügelt und selbst vom 16jährigen, hellhäutigen Bruder als "Kaffer" verspottet wird.
Eduardo hingegen hat noch beide Eltern, aber er ist als Streber verschrien. Man stelle sich nur vor: Das Kind eines Mechanikers besitzt ein Wörterbuch und benutzt es auch noch.

Die beiden sind unzertrennlich, haben gemeinsame Träume, fühlen sich unbesiegbar - trotz der Schmerzen und der Verachtung, die man ihnen zufügt und entgegenbringt. Sie sind neugierig, tatendurstig, phantasievoll und haben ihren Witz (zum Glück!) noch ganz und gar nicht verloren.
In der Schule im Lateinunterricht passen sie nur manchmal auf, blättern lieber in Schmuddelheften unter der Bank - wie das pubertierende Jugendliche eben so tun. Doch wenn etwas ihr Interesse geweckt hat, dann beißen sie sich fest, wollen den Dingen auf den Grund gehen.

So wie im Fall der Leiche, die sie, entblößt und entstellt, nach einem übermütigen Schwimmausflug gefunden haben.
Die Frau des Zahnarzts kam zu Tode ... - rüde werden die beiden vernommen, dann nach Hause entlassen.
Mit dem Täter, der sich präsentiert, sind sie nicht zufrieden, machen sich auf, den wahren Schuldigen zu entlarven.
Der ihnen - nolens volens - zur Hand geht, ist selbst ein Unangepasster. Ein pensionierter Lehrer, der sich im Altersheim zu Tode langweilt.
Gemeinsam machen sie sich auf die Suche und entdecken dabei Erstaunliches.
Dabei gibt es zwischen dem, was sie verbindet und dem, was sie trennt, so viele Gemeinsamkeiten ...

Es ist eine abenteuerliche Geschichte, die der alte Mann und die Jungs da Stück für Stück ans Tageslicht befördern. Und sie ist alles andere als schön.
Sie hängt mit vorsintflutlichen Besitz- und Herrschaftsansprüchen zusammen, aus heutiger und zudem europäischer Sicht beide unfassbar.
Mit korrupten Politikern, honorigen Gutmenschen mit rabenschwarzer Weste und einer Opern liebenden Puffmutter.

Was Silvestre - derselbe Jahrgang wie seine Protagonisten - da schildert vom Brasilien in den frühen Sechzigern, ist ein Sittengemälde, bei dem vor allem der Unterschied zwischen weißen und schwarzen Einwohnern ins Auge springt.
Und der zwischen arm und ganz arm.

Menschen, die in Anbetracht ihrer Verhältnisse erst einmal sortieren müssen, was in Anbetracht ihrer Lage und trotz alledem noch vom Leben da ist, an Erwartungen, Hoffnungen, Träumen. Egal wie viele Jahre noch vor ihnen liegen.

Es ist eine Kriminalgeschichte mit einer unerwarteten Auflösung und bei aller Brutalität der Verhältnisse und aller Deutlichkeit der geschilderten Perversitäten faszinierend und spannend, sogar ab und an witzig.

Die Helden - jung wie alt - sind bewundernswert, streckenweise ausgesprochen charmant und immer wieder unerwartet schlau.

Das Ende ist bittersüß - ein wirkliches Ende. Für einige der Figuren und definitiv für die trotz aller Widrigkeiten unbeschwerte Kindheit und Jugend von Paulo und Eduardo.

Großartiges Buch!

Miss Sophie