Das Buch direkt bei Amazon bestellen Elisabeth Elo Kathrin Bielfeldt Jürgen Bürger
Die Frau, die nie fror

Original: North of Boston
Aus dem Amerikanischen von Kathrin Bielfeldt und Jürgen Bürger
Ullstein gebunden
ISBN 978-3-550-08038-8

Ihr russischer Vater hält sie für zu weich.
Die Navy nennt sie mutig.
Die meisten Männer finden sie attraktiv.
Für die Leute in Boston ist sie eine Heldin, für die Wissenschaft ein Phänomen.
Ihrer besten Freundin Thomasina ist sie zu ehrlich.
Ihr Patensohn Noah möchte am liebsten immer bei ihr sein.
Zeit für Pirio Kasparov herauszufinden, wer sie wirklich ist.

Rezension:
Pirio hat schon viel mitgemacht in ihrem Leben.

Ihre schöne Mama, erst Modell, dann Unternehmensgründerin, verlor die jetzt Dreißigjährige bereits im Alter von zehn Jahren.
Der Vater - ein vielbeschäftigter, russisch-stämmiger Selfmademan - steckte sie ins Internat, das nicht viel von der kuscheligen Hanni-und-Nanni-Atmosphäre hatte, die man sich gern unter dem Begriff vorstellt.
Gut, dass sie dort eine Freundin fürs Leben fand - Thomasina, zügelloses Scheidungskind reicher Eltern, mit viel Geld und noch mehr Flausen im Kopf.

Pirio hat die Kurve gekriegt, sich ein bürgerliches Leben als Marketing-Managerin in der elterlichen Parfumfirma aufgebaut - ihre Freundin hingegen ist zur Alkoholikerin geworden, nachdem sie mit Ned, einem Fischer von eher schlichtem Gemüt, ein Kind bekommen hat.
Dieses, Noah, ist jetzt zehn, hochbegabt, außergewöhnlich sensibel und seiner Patentante Pirio in inniger Liebe zugetan.

Dann geschieht das Unfassbare:
Das Boot, in dem Pirio Ned zum Fischfang begleitet hat, wird von einem riesigen Schiff gerammt, das sich nicht um die Havarierten kümmert.
Sie geht über Bord, verbringt vier Stunden in dem 6° kalten Wasser, bevor sie gerettet wird - von Ned gibt es keine Spur.
Dass jemand bei solchen Temperaturen nicht sofort stirbt, ist absolut außergewöhnlich, weswegen Pirio über Nacht zur Berühmtheit wird.

Das genießt sie keineswegs und auch andere Gefühle machen ihr das Leben schwer. Einerseits ist sie dankbar, überlebt zu haben, andererseits wütend darüber, keinen Schuldigen für das Unglück verantwortlich machen zu können. Auch die Küstenwache kann ihr nicht helfen.
Für Noah - und sich selbst - will die junge Frau herausfinden, was geschehen ist.

Pirio aktiviert alte Kontakte und macht sich auf, mit offenen und verdeckten Recherchen den Dingen auf den Grund zu gehen.
Ein geheimnisvoller Mann kommt ins Spiel, der sich unter falschem Namen auf die Trauerfeier gemogelt hat.
Und sie erfährt nach und nach Dinge über Ned und seinen früheren Arbeitgeber, die vermuten lassen, dass es sich möglicherweise nicht um einen Unfall handelte.

Die Amateurdetektivin wider Willen wird verfolgt und gerät in große Gefahr, als sie ihre Nachforschungen ausdehnt und sich dafür auf weite Fahrt begibt. Es sterben noch mehr Menschen und es fließt Blut.
Dann eskaliert die Situation und es stellt sich heraus, dass noch viel mehr und mächtigere Menschen an einer groß angelegten Ungeheuerlichkeit beteiligt sind.
Und auch ihre eigene Vergangenheit holt sie ein ...

Dieses Debüt ist packend und atemberaubend spannend - doch das allein reicht nicht, die Faszination des Buches zu erklären.

Denn neben der durchaus eines Kriminalromans würdigen Handlung ist "Die Frau, die nie fror" auch ein Familienroman, der diverse Beziehungsgeflechte beleuchtet, die alles andere als unkompliziert sind.
Da geht es um Paare, deren Zuneigung von großem Ungleichgewicht geprägt ist und um ganze Familiensysteme, in denen sich die Liebe nur durch Streit und permanentem Widerspruch ausdrücken lässt. Oder um den kleinen Jungen, dessen Mutter - selbst eine tragische Figur - ihr Leben nicht in den Griff kriegt, die trinkt und ausgeht, sich mit Männern und der Polizei einlässt, während er allein zu Hause sitzt.
Und natürlich immer wieder um Pirio, die - so tough sie auch scheint - im Innersten ständig mit sich, eigenen und fremden Erwartungen und dem Bild ringt, das andere von ihr haben. Dabei will sie doch eigentlich nur ... ja, was? Sich selbst treu bleiben? Geliebt, gebraucht, respektiert, aber nicht ausgenutzt werden?

Schließlich gibt es noch eine dritte Ebene, auf die aus offensichtlichen Gründen hier nicht näher eingegangen werden soll, die dem Ganzen noch eine mystische Komponente hinzufügt.

Und so ist es das Zusammenspiel aus großen Gefühlen, poetischer Sprache, Action an den richtigen Stellen und einer Protagonistin, die man sich umgehend als beste Freundin wünscht, die aus diesem Erstling ein tief beeindruckendes Werk machen.

Wie günstig, dass die Autorin dem Vernehmen nach bereits einen weiteren Pirio-Band plant ...

Miss Sophie