Das Buch direkt bei Amazon bestellen Karin Slaughter Klaus Berr
Bittere Wunden

Thriller
Original: Criminal
(5. Band Reihe Georgia)
Deutsch von Klaus Berr
Blanvalet gebunden
ISBN 978-3-7645-0517-2

Als eine Studentin spurlos verschwindet und Will Trent den Fall übernehmen will, wird ihm dieser mit unerwarteter Heftigkeit entzogen.
Amanda Wagner, seine undurchschaubare Vorgesetzte, scheint Will mit aller Macht davon abhalten zu wollen, nach der Vermissten zu fahnden. Aber warum?
Erst als sich die beiden in einem verlassenen Waisenheim gegenüberstehen, entspinnt sich eine Geschichte, die nicht nur das lang gehütete Geheimnis um Will Trents Vergangenheit endlich aufdeckt, sondern auch ein grausames Netz aus Verrat, Korruption und bitterem Hass entlarvt.

Rezension:
Es ist das Jahr 1974, am Kinderstrich der Stadt Atlanta konkurrieren mehrere Mädchen. Was sie verbindet: Alle sind schlank, blond, haben einen Hang zu Drogen und teilen sich denselben Zuhälter.
Und ein Jahr später sind sie alle entweder verschwunden oder tot.

In den Fall direkt involviert: Amanda Wagner.
Kaum 25 Jahre alt, wird ihr der Polizei-Beruf alles andere als leicht gemacht. Denn zusätzlich zu den rivalisierenden Gruppen innerhalb der Truppe, die peinlich genau darauf achten, dass sich weiße und schwarze Kollegen nicht ins Gehege kommen, und dass – bewahre! - echte Männer sich bei ihren Ermittlungen nicht durch die von allen belächelten Frauen stören lassen müssen, hat sie damit zu kämpfen, dass sie „Dukes Mädchen“ ist. Als langjähriger Leiter der „Zone eins“ war Captain Duke Wagner erst kurz zuvor seiner Aufgaben enthoben worden, als der neue – schwarze – Polizeichef sämtliche weißen Führungskräfte austauschte.
Es ihm recht zu machen und bei den Kollegen nirgends anzuecken, ist für die sensible und ein wenig schüchterne „Mandy“ jeden Tag eine kräftezehrende Herausforderung.

Und doch – oder vielleicht gerade deswegen – verbeißt sie sich mit der sehr unterschiedlichen Kollegin Evelyn in einen Fall, der zunächst gar keiner ist:
Denn offiziell heißt es, die aus dem Fenster gestürzte Prostituierte habe Selbstmord begangen.

Parallel zu dieser in der Vergangenheit angesiedelten Handlung bringt das Verschwinden einer Studentin Aufruhr in das junge Glück zwischen Will und Sara.
Denn eigentlich ist der Special Agent zum Sondereinsatz am Flughafen abkommandiert (siehe auch das Prequel im kostenlosen E-Book „Stiller Schmerz“) - doch als er von dem Fall hört, möchte er sich unbedingt damit befassen, was seine Chefin Amanda Wagner um jeden Preis zu verhindern sucht.

Das Verhältnis zwischen den beiden ist nach wie vor ambivalent – auf der einen Seite lässt sie keine Gelegenheit aus, ihn zu bevormunden, herumzukommandieren und ruppig zu behandeln, auf der anderen ist eine gewisse Fürsorge unterschwellig immer zu spüren.
Im aktuellen Fall allerdings ist sie knallhart und stellt sich ihm – ohne Rücksicht auf körperliche Unversehrtheit vehement in den Weg.

Schwer zu glauben, dass diese Amanda dieselbe Frau ist, die 35 Jahre zuvor nur Spott und Mitleid von den männlichen Kollegen erntete, wenn sie von den brutalen Kerls nicht gar mit Gewalt eingeschüchtert wurde.

Doch dank Tricks, Täuschungsmanövern und einer gehörigen Portion weiblicher Netzwerkarbeit gelingt es ihr und den Kolleginnen Evelyn (die als Mutter von Faith, Wills Partnerin, bereits in Erscheinung getreten ist) und Vanessa (in der Gegenwart Leiterin der Flughafenpolizei – siehe auch „Stiller Schmerz“) die Old Boys' Seilschaften zu unterlaufen.
Denn egal ob in der Zentrale der Leitstelle, in der Rechtsmedizin oder im Gefängnis, überall sitzen Frauen, die genug davon haben, dass ihnen Väter, Ehemänner, Brüder oder Bosse sagen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Absolut faszinierend, dieser Werdegang der „alten Mädchen“, vor allem, da sie unterschiedlicher nicht sein könnten: die lebenslustige Vanessa, Evelyn, die Widerspenstige, die sich beweisen will, Amanda, das zurückhaltende Mädchen ohne Freunde, in ständiger Angst, einen Fehler zu begehen, die Jüdin Roz, die als Polizeifotografin Dinge sieht, vor denen es gestandenen Männern graut, und die schwarze Deena, die im forensischen Pathologen Pete überraschend einen Förderer findet.

Dieses Verhalten und die Entwicklung, welche die Figuren unter den gegebenen Umständen durchlaufen, sind mindestens ebenso spannend, wie die diversen Kriminalfälle.
Vergangenheit und Gegenwart sind lange nicht verzahnt und doch ist natürlich klar, dass sie untrennbar verbunden sind.

Überall gibt es Parallelen:
Junge Menschen aus gutem Hause, die aus Langeweile oder weil sie die falschen Freunde haben, in einen Teufelskreis geraten – nicht selten in Verbindung mit Drogen – aus dem sie nicht mehr herauskommen. Die Abwärtsspirale ist hier direkt vorprogrammiert.

Eigentlich wäre ja auch Will ein Kandidat für ein solches Leben auf der Verliererseite gewesen – mehr noch als die Mädchen aus den intakten Familien, bedenkt man seine Herkunft als Pflegekind.
Nicht zu vergessen seine unheilvolle Verbindung zu Angie, die vor dem Gesetz immer noch seine Frau ist, obwohl diese Ehe aus einer Laune heraus geschlossen wurde. Jene Angie, die ihm geholfen hat, seine Kindheit zu überleben, ihn aber gleichzeitig jetzt, da sie beide erwachsen sind, verletzt, wo immer sie nur kann – und doch die einzige Person ist, die wirklich alles über ihn weiß. Sie schürt die Rachephantasien, die ihn seit Jahrzehnten verfolgen und bestraft ihn, indem sie sich selbst immer wieder ins Abseits befördert – ganz abgesehen davon, dass sie seine neue Liebe Sara offen beschimpft und mit Drohbotschaften überzieht...
Und doch kriegt Will immer wieder die Kurve – selbst dann, wenn er nur noch Gefühl pur ist und seine komplette Welt auf dem Kopf steht.
Er ist einer von den „Guten“, einer, der sich ein ums andere Mal an den Haaren aus dem Sumpf gezogen hat.

Das sind die positiven Lese-Erlebnisse.
Aber auch an negativen Seiten mangelt es nicht.

Man möchte weinen, bei den Schilderungen von jungen Mädchen, die zunächst aus Diätgründen und dann, weil es so praktisch ist, sich aus dem gewohnten Leben einfach hinauszubeamen, „auf Droge“ geraten und ganz schnell sämtliche Illusionen verlieren.

Man möchte den bornierten Machos aus den Siebzigern, die sich lieber eine Hand abhacken würden, als auch nur einen Finger für eine Frau – oder einen schwarzen Kollegen – krumm zu machen, ihre Vorurteile aus dem Leib schütteln.

Vor allem aber möchte man Karin Slaughter, der es immer und immer wieder gelingt, die Spannung zu schüren, neue Geheimnisse anzudeuten, Halbsätze in den Raum zu stellen, um dann abrupte Szenenwechsel einzuläuten, auf Knien darum bitten, ja nicht aufzuhören, mit ihren Geschichten, jetzt, wo man das Gefühl hat, so viele der Figuren sehr viel besser zu verstehen, da man ihre Vergangenheit kennt.
Oder zumindest Teile davon...

Miss Sophie