Das Buch direkt bei Amazon bestellen Anna Seidl
Es wird keine Helden geben

Oetinger gebunden
ISBN 978-3-7891-4746-3
(ab 14 Jahren)

Kurz, nachdem es zur Pause geläutet hat, hört Miriam einen Schuss.
Zunächst versteht niemand, was eigentlich passiert ist, aber dann herrschen Chaos und nackte Angst. Matias, ein Schüler aus ihrer Parallelklasse, schießt um sich. Auch Miriams Freund Tobi wird tödlich getroffen.
Miriam überlebt - aber sie fragt sich, ob das Leben ohne Tobi und mit den ständig wiederkehrenden Albträumen überhaupt noch einen Sinn hat.
Waren sie und ihre Mitschüler Schuld an der Katastrophe?

Das großartige Debüt von Anna Seidl, die erst 16 Jahre alt war, als sie diese aufwühlende Geschichte geschrieben hat: eine intensive Auseinandersetzung mit den Folgen eines Amoklaufs für die Überlebenden, mit Schuld und Trauer, schonungslos erzählt.

Rezension:
Atemlos und ungeheuerlich von der ersten Seite an – was die 15jährige Neuntklässlerin beschreibt, das ist Grauen pur.
Am meisten deswegen, weil der Lesende weiß, dass solche Geschichten keine reine Fiktion sind, sondern genau das an Schulen überall auf der Welt und hier in Deutschland passiert (ist).
Die Geräusche, die Reaktionen der anderen, die eigenen Gedanken und das komplette „nur-auf-sich-selbst-zentriert-sein“, sind in ihrer Beschreibung so real, dass man unweigerlich das Gefühl hat, selbst am Boden zu kauern und an einen bösen Alptraum glauben zu wollen.
Was dann geschieht – was Miriam sehen und erleben muss, was sie selbst tut oder eben auch nicht – das ist schon enorm wuchtig.
Doch das, was auf die Tat als solche folgt, ist noch viel gewaltiger: Ein Ansturm von Gefühlen und gleichzeitig Nicht-Gefühlen. Die Unsicherheit, wie man sich verhalten soll – als „Be-Troffene“, Freundin, oder Familienangehörige. Die Gewissheit, dass das Leben, wie es war, definitiv vorbei ist.
„Leben ist schwer. Weil du manchmal dabei stirbst. Und dann wirst du ein komplett neuer Mensch“ konstatiert die Ich-Erzählerin. Und schließt sich ein. Isst nicht. Schläft nicht. Nimmt ihre Umwelt nicht mehr zur Kenntnis, kapselt sich ein – lässt sich von nichts erreichen, was gesagt oder getan wird.
Da ist die Mutter – aufgrund des schrecklichen Ereignisses nach Jahren der Trennung zurückgekehrt. Es interessiert Miriam nicht.
Alte Fotos, die komplette „Früher-Persönlichkeit“ - unwichtig. Sie hat keine Verbindung mehr zu sich und zu dem, was war.
Das ist nicht nur Trauer oder Schock oder eine Mischung aus beidem – es ist der komplette Verlust der eigenen Person und Realität.
Wenn das Mädchen schläft, kommen die Träume – und die sind voller Blut. Immer neue Verbrechen geschehen und die alten wiederholen sich. Familie, Freunde, der Täter – alle sind darin verwickelt. Erinnerungen, die kaum auszuhalten sind, stürzen auf sie ein – ausgelöst durch die banalsten Alltagsgegenstände.
Dann kommt der erste vorsichtige Schritt, um das Unwirkliche zu bewältigen. Er besteht aus einer radikalen Veränderung: Haare ab und Farbe hinein.
Über allem liegt eine grenzenlose Erschöpfung – und Wut, über das Unverständnis der anderen. Eine einzige Konstante gibt es in diesem Chaos – den Großvater. Vermittelnd, fürsorglich – so, wie er immer war.
Wie in Trance lässt sie die Trauerfeier mit Anwesenheit des Bundespräsidenten an sich vorbeiziehen.
Besonders belastend: Das Verhältnis zur Herzensfreundin – statt durch das gemeinsame Erlebnis gefestigt zu werden, ist es komplett zerstört. Auch andere Bande gehen zu Bruch – eine will nicht reden, die andere zieht direkt weg, die dritte sucht sich eine neue Clique.
Nach und nach stellt sich die Trauer um den toten Freund ein – tausendmal wählt Miriam seine Handynummer, um den Ansagetext der Mailbox zu hören. Gleichzeitig sind ihre Erinnerungen durchzogen von Gedanken an den Amokläufer und was mit ihm geschah, als er noch einfach ein Junge mit echt schlimmen Pickeln und fettigen Haaren war, der verzweifelt nach Anschluss suchte.

Anna Seidl beschreibt das Gefühlschaos, das ihre Heldin umtreibt, in einer Weise, die unter die Haut geht.
Alles ist so nachvollziehbar: Die kurzzeitige Versuchung, Selbstmord zu begehen, die irrationale Wut auf den Toten, der ihr Liebster war, der allererste Freund.
Rückblenden, die zeigen, welche schönen Dinge die Teenager erlebt haben, wie sie aussahen, die Beweise von Freundschaft, Zusammenhalt, Klassengemeinschaft, wechseln sich ab mit zarten Erinnerungen, die den Lesenden das Herz brechen, aber auch mit einem unverstellten Blick auf die Probleme, die es gab.

Über allem dann die Erkenntnis, dass Miriam einfach nicht bereit ist, die neuen Tatsachen anzunehmen: Sie will nicht, dass ihr altes Leben weg ist.
Und muss es doch irgendwann akzeptieren – trotzdem (oder vielleicht gerade weil?) ein weiterer, grauenvoller Schicksalsschlag das kleine Pflänzchen Heilung noch einmal gewaltig beutelt.

Das Ende, es ist verhalten. Enthält keine rosarote Lösung aller Probleme, kein Rezept für ein weiteres glückliches Leben, aber viele (gute) Fragezeichen, die den Beteiligten vielleicht auf ihrem Weg in eine neue Realität behilflich sein können.

Zum Glück hat die junge Autorin das, was sie ihre Ich-Erzählerin erleben lässt, nicht selbst durchgemacht. Beschrieben allerdings hat sie es in einer Dichte, die sprachlos macht. Und den Gedanken nahelegt, dass möglicherweise eine solche Geschichte tatsächlich genau so nur von einem jungen Menschen geschildert werden kann ...

Nein, es ist kein Wunder, dass Seidl im August 2014 den Nachwuchspreis der Dt. Akademie für Kinder- u. Jugendliteratur e.V. erhalten hat.
Und ja, trotz oder gerade wegen des sensiblen Themas eignet sich dieser herausragende Roman hervorragend als Schullektüre.

Miss Sophie