Das Buch direkt bei Amazon bestellen Friedrich Ani
Der namenlose Tag

(1. Band)
Suhrkamp gebunden
ISBN 978-3-518-42487-2

Kriminalhauptkommissar Jakob Franck ist seit zwei Monaten im Ruhestand.
Vor zwanzig Jahren hatte er sieben Stunden, ohne ein Wort zu sagen, der Mutter einer toten Siebzehnjährigen beigestanden. Jetzt wird der Kommissar von dieser Sache eingeholt: Ludwig Winther tritt mit ihm in Kontakt; er ist der Vater des jungen Mädchens und Ehemann jener Frau, der Franck so viel Aufmerksamkeit widmete.
Zwanzig Jahre sind vergangen, und der Vater glaubt noch immer nicht an den – laut polizeilichem Untersuchungsergebnis eindeutig feststehenden – Selbstmord der Tochter durch Erhängen: Seiner Meinung nach kann es sich nur um Mord handeln.

Rezension:
Nachts spielt er Online-Poker – mit dem Plan, langfristig fit für ein „richtiges“ Casino zu sein - , tagsüber sieht (und hört) der geschiedene Jakob Franck manchmal Beteiligte aus vergangenen Mordfällen, wie sie sich in seiner Küche, bei Tee und Keksen über dies und jenes austauschen.
Der Ex-Ermittler von Dezernat 11, den die Kollegen dazu auserkoren hatten, Überbringer von schlechten Nachrichten an Angehörige zu sein, ist daran gewöhnt, dass Menschen ihm ihre tiefsten Gedanken und Geheimnisse offenbaren, warum also nicht auch Verstorbene oder deren Angehörige?

Der Mann, der aber eines Tages bei ihm auftaucht, ist aber tatsächlich aus Fleisch und Blut. Der Ex-Hosenverkäufer hat viel mitgemacht. Kind tot, auch die Frau hat sich das Leben genommen, Alkohol und Nikotin waren lange seine zerstörerischen Begleiter und den Todestag von Esther hat er am Jahresanfang immer gleich direkt aus dem Kalender gerissen. Seine unbändige Verzweiflung, an der der Leser in Rückblenden ungemein plastisch teilhat „Lieber Gott, mach Atem für mein Kind!“ kann nach all den Jahren nur in eines münden: Selbsttötung oder Gewissheit über den Ablauf der verhängnisvollen Tat. Er hat sich für die zweite Variante entschieden. Vorerst. Dazu braucht er Franck.
Der wiederum hat durch die nächtliche Begegnung mit der Mutter des toten Mädchens, jenseits aller gängigen Klischees und Vorurteile keusch-unschuldig und vielsagend-vielschichtig zugleich, eine ganz besondere Beziehung zu eben diesem Fall.
Also tut er, was er einfach tun muss. Er befragt Zeugen, bringt auch die sperrigsten Charaktere zum Reden, schreibt alles akribisch in seiner leserlichen Schreibschrift in sein Notizbuch und löst so am Ende das Rätsel um den Tod des Teenagers.

Viel steht dabei im Raum: Gab es innerhalb der Familie ein unaussprechliches Geheimnis? Hatte ein wesentlich älterer Mann mit der Sache zu tun? War Eifersucht unter Jugendlichen das Motiv? Oder weist eine lang zurückliegender Gewalttat im Beisein eines Kindes den Weg zum Täter?

Diesem Franck ist nichts Menschliches fremd und er tut Dinge, die hochgradig ungewöhnlich sind. Mit seinem untrüglichen Gespür für Gefühle erkennt er auf den ersten Blick, wer seelischen Ballast mit sich herumträgt, weil ein Todesfall ihn oder sie schwer belastet. Diese Leute spricht er einfach an, zwingt sie dazu, weiterzureden und verhindert so nicht selten das Undenkbare, Unaussprechliche, das sie planen.
Auf behutsam-beharrliche Art entlockt er den Zeugen und Angehörigen Details, von denen sie gar nicht mehr wussten, dass sie ihnen noch in Erinnerung waren. Es gibt Tränen, Beschimpfungen, viele werden laut. Doch am Ende ist da eine einzige große Umarmung – und dann wird es gut, zumindest in Teilen, wenn auch das Schlimme nie ungeschehen gemacht werden kann.

Wuchtig und gewaltig fängt Ani den Leser ein mit seinen Figuren, die fühlen und denken und reden.
Viel reden.
Der Bierfluss ist überschaubar, die Action auch und doch möchte man unbedingt weiter und wieder weiter, um zu sehen wie alle Puzzleteile an ihren Platz finden. Wenn sie es dann tun ist da Erleichterung und Bedauern zugleich, dass es nun vorbei ist.

Autor Ani findet literarisch strahlende Sätze für zutiefst traumatisierte und betrübte Personen und stellt mitten hinein in all die Perspektivwechsel, in denen oft nicht klar ist, wer denn jetzt gerade fühlt und denkt (Der Polizist? Sein Besucher? Die Frau aus der Erinnerung? - in diesem Buch kriechst du in jeden Kopf!) einen Mann mit einer Mission.
Unaufgeregt, aber unbeirrbar, will und muss er die Wahrheit ergründen. Ein Kerl, der nicht von der eigenen Bedeutung durchdrungen ist, ganz im Gegenteil. Ein geradliniger, zielorientierter Typ, dem Schmerz und Verzweiflung seit seiner beruflichen Tätigkeit zum Teil des eigenen Wesens geworden sind. Einer der Erlösung bringt durch Interesse, Wissen, Aufklärung.
Jakob Franck ist ein Menschenversteher, der Gefühle zulässt, ohne dadurch an Standing zu verlieren. Auf sanfte Art hat er Kraft für zwei oder drei oder genau so viele, wie gerade gebraucht wird. Er ist still, aber nicht um jeden Preis ein Einzelgänger – davor bewahren ihn Marion, die Ex-Frau, zu der er nach wie vor einen sehr guten Draht hat, oder seine ehemaligen Kollegen, die ihn bei Bedarf mit Informationen unterstützen. Wenn es sein muss, spricht der Mann aus Aubing auch wildfremde Frauen an, die ihm ihre tiefsten Geheimnisse offenbaren.

Und, ganz ehrlich, so einer hat uns gerade noch gefehlt!

Miss Sophie