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Feine Freunde - Commissario Brunettis neunter Fall

(9. Band)
Original: Friends in High Places
Diogenes gebunden
ISBN 3-257-06271-0

Ein bürokratisches Damoklesschwert hängt über Familie Brunetti: überglücklich hatten sie vor zwanzig Jahren, als frischverheiratetes Paar, Paola in Erwartung, ihre Wohnung über den Dächern von Venedig erworben - ohne viel zu fragen.
Und jetzt steht plötzlich ein Beamter vom Katasteramt, Franco Rossi, vor der Tür und stellt Fragen nach der Baugenehmigung und anderen Dokumenten. Doch der Paragraphenwald täuscht Brunetti nicht über den Abgrund von Widersprüchen und dunklen Machenschaften hinweg, der sich bei näherem Hinsehen auftut.
Schon bald ermittelt er, nicht nur in eigener Sache: Der Mann vom Katasteramt verunglückt tödlich beim Sturz von einem Baugerüst, und eine Telefonnummer in der Brieftasche des Verunglückten führt zu einem Anwalt, der am helllichten Tag erschossen wurde.
Drogen, Wucher, Korruption: Von organisierter Kriminalität umstellt, gerät Brunetti angesichts der eigenen Ohnmacht so sehr in Rage, dass er zu ungewöhnlichen Mitteln greift ...

Rezension:
Da ist er nun also, der neue "Brunetti" - sehnlichst erwartet von zahllosen Fans, auch und gerade in Deutschland.
Fragt sich der - selbst von den erfolgreichen Verfilmungen mit Joachim Król und Barbara Auer, denen schon bald weitere folgen sollen - "unbeleckte" Rezensent unwillkürlich: Muss man sie alle gelesen haben, die acht Vorgänger-Bände, um die Faszination zu verstehen, den die Romane der Wahl-Venezianierin Leon offensichtlich ausstrahlen?
Die Antwort ist: Nein!
Denn es ist der Autorin gelungen, ohne ausufernde Beschreibungsorgien ihre Haupt-Charaktere so plastisch zu zeichnen, dass sie bald auch für den "Neo-Brunettologen" zu unverwechselbaren Persönlichkeiten werden.
Obschon es sicherlich außerordentlich aufschlussreich wäre, sie schon in früheren Fällen getroffen zu haben:
Paola, die ebenso widerborstige, wie kluge Ehefrau unseres Helden.
Vice-Questore Patta, seinen Vorgesetzten, nach wenigen Sätzen erkennbares "Brechmittel vom Dienst" - ein Karrierist und Schleimer, der entweder seine Untergebenen schikaniert oder die ihm Übergeordneten hofiert und dabei nicht erkennt, dass er es nie wirklich zu etwas bringen wird.
Signorina Elettra, die Vorzimmerdame, im Wesen (wiewohl nicht Aussehen) der patenten und cleveren Sekretärin "Adelheid" aus der gleichnamigen TV-Serie nicht unähnlich, schaltet sie sich doch gern (und gut) ungefragt in laufende Ermittlungen ein und bringt - sei es nun durch ihre Kombinationsgabe, ihre Computerkenntnisse oder ihre zahlreichen Beziehungen - so manches in Erfahrung, was auf "offiziellen Wegen" wohl für immer verborgen bleiben würde und ist sich auch nicht zu schade, bei Bedarf verdeckte Ermittlungen durchzuführen.
Vianello, seinen treuen Assistenten, absolut unbestechlich und loyal, aber auch mit eigenen Ideen, ein "Harry" von Format, wie ihn sich ein Kommissar nicht besser wünschen könnte, um auch in brenzligen Situationen immer jemanden zu haben, auf den man sich 100%ig verlassen kann.
In "Feine Freunde" geben sie sich ein Stelldichein, um den (Un-?)Fall des bedauernswerten Signor Rossi von der Baubehörde aufzuklären - und alles, was dieser verhängnisvolle Sturz noch nach sich zieht.
Und so manches, was dem teutonischen Betrachter absonderlich erscheinen möchte, fände wohl kein Italiener der Rede wert: weder den Pathologen, der mit Prada-Köfferchen am Tatort erscheint, die Spurensicherung, die sich von angeblichen Bauarbeitern unverrichteter Dinge wegschicken lässt noch gar die Tatsache, dass das Bankgeheimnis ein solches nur für Menschen OHNE Verwandten, Freunde oder Bekannten in einem Kreditinstitut ist.
Kein Wunder also, dass es fast zwingend notwendig erscheint, dass sich Brunetti zur Ergreifung des Mörders ebenso unkonventioneller, um nicht zu sagen unlauterer Mittel bedient.
So weit - so gut.
Spannender Plot, falsche Spuren, der eine oder andere Hinweis zum Mitraten für den Leser, sowie eine überraschende Auflösung, die allerdings doch sehr konstruiert wirkt und einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, wie es in vielen Krimis der Fall ist, in denen die Täter eigentlich selbst Opfer sind - der Umstände oder jener Menschen, für die sie die Tat begehen.
Doch leider gibt es noch einen weiteren Aspekt, der wesentlich dazu beiträgt, den Leser mit einem unbefriedigten Gefühl zu entlassen: Es scheint nämlich als sei Donna Leon die Fähigkeit, ihren Figuren in wenigen Sätzen so viel Leben einzuhauchen, dass der Leser nicht umhin kann, sich für sie zu begeistern, mit ihnen zu leiden, über sie zu lachen oder sie abgrundtief zu verabscheuen, im vorliegenden Roman zum Verhängnis geworden.
Denn unweigerlich fragt sich der bis kurz vor Schluss faszinierte Leser, warum ihm die Autorin eine solche Vielzahl sympathischer, skurriler oder einfach nur fieser Zeitgenossen in mindestens zwei bis drei Neben-Handlungssträngen präsentiert, wenn diese am Ende einfach im Nirwana versickern.
Muss der Tod des jungen Architekturstudenten, der in jeder Zeichnung zwei kleine Häschen versteckte, für immer ungeklärt bleiben?
Wird sich das Wuchererpaar bis an sein Lebensende an verzweifelten Schuldnern bereichern dürfen?
Oder hat die Autorin einfach nur mit einem geschickten Schachzug dafür gesorgt, dass sich auch der nächste Band der Reihe in gewohnt erfolgreicher Manier verkaufen wird?

Miss Sophie

***

So kann es gehen: Die Wohnung, in der Brunetti wohnt, existiert gar nicht. Typische italienische Behördenschlamperei, natürlich. Ein heiterer Anfangsgag für einen Krimi, in dem es sicher noch ernsthafter zur Sache gehen wird. Schließlich hat uns Donna Leon bisher in jedem Brunetti-Roman mit einem großen Thema konfrontiert - immer grundiert mit diesen kleinen atmosphärischen Pinselstrichen aus Brunettis Venedig, das wir für so typisch italienisch halten.
Dass die Geschichte dann aber stagniert und seltsam sprunghaft nur noch Standardsituationen aus dem Baukasten für Brunetti-Krimis aneinanderreiht, überrascht dann doch.
Brunetti nur noch ein Schatten seiner selbst, die hübschen Familien- und Bürogeschichten nur noch einmal (oder auch zweimal) wiederholt, die Spannung knapp über der Raumtemperatur und der sonst so vehement daherkommende aufklärerische Impetus der Autorin nur noch ein müde erhobener Zeigefinger.
Für einen absurden Moment drängt sich die Frage auf, wie der griechische Proll-Kommissar Charakis von Petros Marakis in diesen Fall von Behördenkorruption und Wucherei einsteigen würde. Aber Venedig ist nicht Athen und das wäre auch eine ganz andere Geschichte...
Reinhard Jahn