Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jeffery Deaver Gerald Jung
Die Tränen des Teufels

Original: The Devil's Teardrop
Deutsch von Gerald Jung
Goldmann TB
ISBN 3-442-45036-5

Am Silvestermorgen des Jahres 1999 feuert in Washington, D.C. ein Unbekannter in einer U-Bahn-Station wild in die Menge und entkommt unerkannt. Resultat: 23 Tote und 37 Verletzte.
Wenig später wird Bürgermeister Kennedy ein Erpresserbrief überbracht: Entweder werden 20 Millionen Dollar an "Digger", den Drahtzieher des Blutbades, gezahlt oder sein Komplize wird bis Mitternacht alle vier Stunden ein weiteres Gemetzel anrichten.
Natürlich wird das FBI eingeschaltet. Hochroutiniert und schlagkräftig steht es wenige Stunden später kurz vor einer Verhaftung.
Da passiert das Unfassbare: Bei einem völlig alltäglichen Verkehrsunfall stirbt der einzige Komplize und Kontaktmann Diggers. Jetzt bleibt nur noch eine einzige Spur: der handgeschriebene Erpresserbrief.
Verzweifelt bitten die ermittelnde FBI-Agentin Margaret Lukas ihren früheren Kollegen, den Handschriftenexperten Kincaid Parker, diesen Brief zu analysieren.
Doch Parker zögert. Als allein erziehender Vater, der mitten in einem Sorgerechtsstreit steht, möchte er endlich Abstand von der Welt der Verbrecherjagd gewinnen. Schließlich stimmt er zu - unter der Voraussetzung, dass niemand von seiner Mitarbeit wissen darf.
Doch während Kincaid in mühsamer Kleinarbeit dem Schriftstück Information um Information abringt, scheint es, als sei Digger ihm immer einen Schritt voraus. Auch die Zusage, das Lösegeld zu zahlen, lässt den psychopathischen Killer nicht innehalten.
Und plötzlich ist auch Parker Kincaids Mitarbeit nicht mehr geheim. Als die Gefahr bis in die Zimmer von Kincaids Kindern kriecht, ist allen eins klar - der Countdown läuft bis Mitternacht...

Rezension:
Dieser Deaver - ein Teufelskerl! Schafft er es doch jedes Mal aufs neue den Leser zu verwirren, eine falsche Fährte um die andere zu legen, und am Schluss eine völlig überraschende Auflösung aus dem Hut zu zaubern!
Und dabei WEISS der Fan doch bereits ganz genau, dass er sich nur auf eines verlassen kann: dass nämlich die Phantasie dieses begnadeten Thriller-Autors eine grenzenlose und alles anders ist, als es scheint. Logischerweise wird so jede der handelnden Figuren zum potentiellen Bösewicht - je sympathischer, desto verdächtiger - und zwar so lange, bis eine Kugel auch den letzten Zweifel ausräumt, dass es der, den der gewiefte Deaver-Kenner schon gut ab der Hälfte der knapp 450 Seiten im Visier hatte, garantiert NICHT war.
Wirklich verwunderlich aber ist die Tatsache, dass es offensichtlich tatsächlich möglichst ist, aus immer den gleichen Versatzstücken einen ein ums andere Mal komplett unterschiedlichen, doch stets bis zur letzten Seite atemberaubend spannenden Roman zu machen.
Als da wären:
- ein Wettlauf gegen die Zeit (im vorliegenden Fall die Horrorvision eines gnaden- und skrupellosen Massenmörders, der alle vier Stunden wahllos zahlreiche Menschenleben auslöscht, wenn es nicht gelingt, ihn zu fassen)
- eine tat- und schlagkräftige FBI-Mannschaft, mit allen denkbaren Errungenschaften der Technik ausgestattet, die nichts unversucht lässt, um die Killermaschine zu stoppen
- ein Experte (diesmal der Dokumentenfex Parker Kincaid), der zunächst eher widerwillig, dann jedoch entschlossen und hochkonzentriert, seine (wie könnte es anders sein) überragenden Fachkenntnisse und deduktiven Fähigkeiten zum Einsatz bringt
- profilneurotische Politiker und Medienvertreter, die ihre eigenen Ziele verfolgen und der Sache meist mehr schaden als nützen
- ein Psychopathen und das dumpfe Gefühl des Lesers "kann das wirklich schon alles gewesen sein?"

Wer die anderen Bücher des Autors kennt, darf sich auf ein Wiedersehen mit Tobe Keller, dem sonnengebräunten Kommunikationstechniker aus "Schule des Schweigens" und auf einen Gastauftritt von Lincoln Rhyme, dem gelähmten und doch so genialen New Yorker Ermittler und bisher dreifachen Serienhelden freuen.
Auch sonst ist einiges ähnlich - wenn auch niemals gleich - wie in früheren Romanen: Ein Teil der Handlung wird, in völlig anderem Stil, aus der Perspektive des Täters geschildert (das kennen wir bereits aus "Letzter Tanz") und hier wie da kann sich der Leser zuweilen eines Anflugs von Mitleid mit diesem offensichtlich hochgradig gestörten Menschen nicht erwehren - sofern das überhaupt in Bezug auf jemanden möglich ist, der gerade ohne jeden Gewissensbiss Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt hat.
Wieder gibt es einiges zu lernen - über die Unterscheidungsmerkmale von echten und falschen Dokumenten und darüber, was sich alles aus ein paar hingeworfenen Zeilen oder Zeichnungen herauslesen lässt. Und ein bisschen amerikanische Geschichte gibt es gratis dazu.
Abgerundet wird das Ganze diesmal durch eine (gerade für Leser, die selbst Vater oder Mutter sind) höchst emotionale Komponente, in der es um das Wesen der Elternschaft, die damit verbundenen (und niemals endenden) Freuden, Ängste und Zweifel, sowie den Konflikt zwischen moralischer Pflicht und Verpflichtungen gegenüber der eigenen Familie geht.
Dennoch kommt das Buch natürlich alles andere als betulich daher: Tempo und Action satt. sind einfach ein Muss.
Das unvermeidliche Gänsehautfinale mit Blutbad (darunter läuft bei diesem Autor nichts, das sollten Sie wissen) wird gekrönt von einem witzigen Schlusspunkt, der den Leser dann doch versöhnt in die Nacht entlässt.
Denn dass es spät wird, sehr spät, bis Sie den Roman aus den Händen legen, damit müssen Sie rechnen - von einem echten "Deaver" trennt man sich auf den letzten hundert Seiten einfach nicht mehr ...

Miss Sophie

 

Gastrezension(en):


Name: Michael Drewniok
Email: Drewniok-PB@gmx.de
Datum: 19.10.2001 (9:46)

Washington, D. C., Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika, Sitz des Präsidenten und damit ein Ort, der sowieso rund um die Uhr im Brennpunkt des Interesses und der Medien steht; am Silvestertag des Jahres 1999 zusätzlich überlaufen von zahlreichen Touristen, die das Millennium an prominenter Stätte feiern möchten: Gibt es einen geeigneteren Ort, um eine groß angelegte Erpressung zu starten? Gilbert Havel, das skrupellose Verbrechergenie, will von der Stadt 20 Millionen Dollar erpressen. Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, lässt er seinen Partner, den unheimlichen "Digger", in einer U-Bahn-Station wahllos mit einer Maschinenpistole in die Menge schießen und droht, ähnliche Anschläge in kurzen Abständen wiederholen zu lassen. Zwei Dutzend Menschen tot, noch weitaus mehr verletzt, und Polizei wie FBI sehen keine Chance, den Erpresser vor der nächsten Attacke zu fassen: Bürgermeister Jerry Kennedy sieht keine Chance, als das Lösegeld zu zahlen - doch noch vor der Übergabe kommt Havel bei einem Verkehrsunfall ums Leben ... Hat sich der Fall damit von selbst erledigt? Keineswegs, denn der "Digger" ahnt nichts vom Ende seines Auftraggebers, sondern folgt weiterhin seinen Anweisungen, die da lauten, weiter zu morden, bis das Gegenteil angeordnet wird ... Für Margaret Lukas, stellvertretende leitende Agentin der FBI-Außenstelle im District of Columbia, und ihren Kollegen Cage beginnt die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Als "Spur" gibt es praktisch nur Havels Erpresserbrief. In dieser Situation erinnert sich Cage an einen früheren Kollegen. Parker Kincaid war einst d e r Handschriftenexperte des FBI, hatte seine Stelle jedoch aufgegeben, nachdem ein rachsüchtiger Psychopath ihn und seine beiden Kinder beinahe ausgelöscht hatte. Nun schlägt er sich freiberuflich recht erfolgreich durch und ist von daher wenig geneigt, zum FBI zurückzukehren, zumal ihm seine Ex-Frau gerade das Sorgerecht für die Kinder entziehen lassen will und ihrem Anwalt das Wissen um Kincaids Beteiligung an der Jagd auf einen gemeingefährlichen Massenmörder dabei sehr gelegen käme. Unter diesen Voraussetzungen kommen die Ermittler nur mühsam voran. Zwar ergeben sich einige neue Spuren, als Kincaid einen weiteren Spezialisten aus New York - den legendären, vom Hals abwärts gelähmten Tatort-Analytiker Lincoln Rhyme - zu Rate zieht. Doch die wahre Gefahr ist den Beteiligten noch gar nicht bewusst: Der "Digger" ist weniger Täter als selbst Opfer; nachdem ihn vor Jahren eine Kugel in den Kopf traf, gibt es für ihn kein Bewusstsein für Schuld, Rücksicht oder Nächstenliebe mehr. Geschickt hatte sich Havel dies zu Nutze gemacht und sich eine perfekte Mordmaschine herangezogen, die sinnlos immer weiter töten wird, weil niemand ihr mehr Einhalt gebieten kann ... Dazu kommen die üblichen zwischenmenschlichen Irrungen und Wirrungen - Parker Kincaids Los als allein erziehender, von der selbstsüchtigen Ex-Frau verfolgter Vater; Margaret Lukas’ hinter harter Schale sorgsam verborgen gehaltene, tragische Vergangenheit; selbstverständlich harte Bullen und smarte Feds sowie allerlei selbstsüchtige, korrupte und gewissenlose Politiker und Medienhaie, die gar zu gern im Umfeld der "Metro-Morde" zu Ruhm und Geld kommen würden: Fertig ist ein moderner Thriller der besseren Machart! Dies klingt zynischer als es gemeint ist. "Die Tränen des Teufels" ist ein Roman, der nichts wirklich Neues zum Genre beizutragen, aber immerhin durchweg auf überdurchschnittlichem Niveau zu unterhalten weiß. Würde man Jeffery Deavers übriges Werk nicht kennen, gäbe es wohl zur Klage kaum einen Anlass (auch wenn es nach dem Geschmack ihres Rezensenten hier und da gar zu sehr und offensichtlich menschelt). Aber da sind die beiden Thriller, die Deaver vor "Die Tränen ..." um den gelähmten Ermittler Lincoln Rhyme geschrieben hat, der hier ja ein (quotenträchtiges, aber der Handlung seltsam aufgepfropft wirkendes) Gastspiel gibt. Wer diese kennt, wird sehr rasch erst verblüfft und dann ein wenig ärgerlich feststellen, dass Deaver mit Parker Kincaid einfach einen Lincoln Rhyme erschaffen hat, der laufen kann. Wenn das Duo mit Mikro- und Spektroskop und allen High Tech-Instrumenten hantiert, die das moderne Untersuchungslabor heutzutage hergibt, kann man es eigentlich nicht auseinanderhalten. Dasselbe gilt für die Menschen, mit denen Deaver Kincaid bzw. Rhyme umgibt. Auch sie könnten in jeder der beiden Serien auftreten, stammen sie doch aus demselben Baukasten stromlinienförmiger Allerweltsfiguren, denen bei Bedarf einige persönlich anmutende, tatsächlich aber austauschbare Charakterzüge aufmontiert werden. Trotzdem ist "Die Tränen des Teufels" beileibe kein schlechter i. S. von langweiliger Thriller, denn dafür beherrscht Deaver die Regeln des Genres viel zu gut und ist darüber hinaus zwar kein mitreissender, aber sehr kompetenter Geschichtenerzähler. Bei der Schilderung moderner Ermittlungsmethoden jenseits polizeilicher Fußarbeit ist er sichtlich in seinem Element, hat sorgfältig recherchiert, möchte mit seinen Kenntnissen nicht hinter dem Berg halten und schafft es auch, seine Leser zu fesseln. Wenn Kincaid manches Mal gar zu tief in die Wundertüte greift, als dass man seinen überraschenden Entdeckungen Glauben schenken mag, hilft die Erinnerung an diverse James Bond-Abenteuer, deren Unterhaltungswert durch objektiv lachhafte Science Fiction-Elemente auch nicht zu leiden pflegte. Einen dicken Pluspunkt kann Deaver darüber hinaus mit der Figur des "Diggers" verbuchen. Dies ist um so verblüffender, da er hier zunächst eine Figur aus der Mottenkiste des Thrillers präsentiert: den irren Psychopathen, mehr Roboter oder Zombie als Mensch, der unbeirrbar und scheinbar unverwundbar wie Michael "Halloween" Myers von Mord zu Mord stapft. Aber wie jedes gute Monster trägt auch der "Digger" tragische Züge und ist nicht allein für seine Taten verantwortlich zu machen. Das macht ihn nicht ungefährlicher und hätte von Deaver übrigens auch nicht durch die plötzlich aufkeimende, aber schwer nachzuvollziehende Freundschaft zwischen dem "Digger" und einem armen, misshandelten, kleinen Jungen massenpublikumswirksam verkitscht werden müssen; hier zeichnet sich wohl schon das Drehbuch zum gleichnamigen Film ab. Wiederum nicht wirklich neu, aber selten verwendet und per se interessant ist natürlich das Konzept eines Killers, der ahnungslos, aber entschlossen eine Mission erfüllt, die längst sinnlos geworden ist. Und wie stoppt man einen solchen Bösewicht, wenn nach dem Tod des Auftraggebers keine direkte Spur mehr zu ihm führt? Bekanntlich gelingt der perfekte Mord stets dann am besten, wenn dem Täter kein Motiv und keine Verbindung zum Opfer nachzuweisen sind. Der "Digger" ist in dieser Beziehung der Albtraum jedes Kriminalisten, während der Leser aus der Sicherheit seines gemütlichen Ohrensessels gespannt verfolgt, wie kluge Köpfe diese Klippe zu meistern suchen - und im obligatorischen großen, blut- und bleihaltigen Finale selbstredend siegreich bleiben. P. S. 1: Lasse ich die Katze allzu früh aus dem Sack? Keine Sorge; Jeffery Deaver legt selbst die Karten schon sehr früh auf den Tisch. Spannung erzeugt nicht das Rätselraten über den oder die Täter, sondern die Beobachtung der Fahndung, bei der sich Jäger und Gejagter allmählich näher kommen. P. S. 2: Was den etwas kryptischen Titel betrifft - er stellt ein Wortspiel dar und bezeichnet in der Graphologie (der Wissenschaft, Handschriften nicht nur zu entziffern, sondern zu deuten und Rückschlüsse auf den Schreiber zu ziehen) eine ganz bestimmte (und damit verräterische) Art, Buchstaben aufs Papier zu setzen.