Das Buch direkt bei Amazon bestellen David Liss Gerald Jung
Die Papierverschwörung

Original: A Conspiracy of Paper
Deutsch von Gerald Jung
btb TB
ISBN 3-442-73068-6

London zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Die Bäume scheinen seit ein paar Jahren in den Himmel zu wachsen, ehrbare Bürger verlieren jede Vernunft.
Das neue Zauberwort "Aktien" macht die Runde, und es geht das Gerücht, damit lasse sich über Nacht ein Vermögen verdienen. Kein Wunder, dass jeder versucht, beim großen Spiel dabei zu sein. Doch wo gehobelt wird, da fallen auch Späne.
Wer wüsste das besser als Benjamin Weaver, schwarzes Schaf einer angesehenen Kaufmannsfamilie, der nach einer schillernden Laufbahn als Faustkämpfer sein Geld damit verdient, wohlhabenden Gentlemen Ärger vom Hals zu schaffen.
Eines Tages erhält er einen sehr persönlichen Auftrag: Er soll die mysteriösen Umstände aufklären, unter denen sein Vater, ein bekannter Börsenmakler, ums Leben kam.
Seine Nachforschungen führen Weaver in die Londoner Unterwelt sowie in die Clubs der Reichen und Mächtigen. Nur langsam durchschaut er die Regeln, nach denen die Einflussreichen der Londoner Finanzwelt ihr Netz von Intrigen und Korruption weben, um die Fäden in der Hand zu behalten.
Und dann ist da noch die junge, verwirrend schöne Jüdin Miriam - aber auch sei scheint in diesem Spiel ihre ganz eigenen Interessen zu verfolgen.

 

Gastrezension(en):


Name: Michael Drewniok
Email: Drewniok-PB@gmx.de
Datum: 25.10.2001 (22:09)

London im Oktober des Jahres 1719, Hauptstadt eines Reiches in einer politischen Dauerkrise. Fünf Jahre zuvor ist Königin Anne Stuart kinder- und erbenlos verstorben. Um die Krone und damit um die Macht im Land ist im Kabinett ein erbitterter Kampf ausgebrochen. Die Regierungspartei hat den Kurfürsten Georg von Hannover, einen weitläufigen Verwandten Annes, als George I. auf den Thron gehoben. Die Opposition und große Teile der Bevölkerung können sich mit dem Herrscher aus dem Ausland nicht anfreunden. Aus dem Exil droht Jakob (VIII.), Sohn des 1707 abgesetzten Königs von Schottland, mit Hilfe des alten Erzfeindes Frankreich die Vereinigung des schottischen mit dem englischen Königreich gewaltsam rückgängig zu machen. Die Staatsverschuldung erreicht astronomische Höhen. Die Regierung bekommt den Haushalt einfach nicht in den Griff. Immer noch schwelt der Konflikt zwischen der protestantischen Regierungspartei und der katholischen Opposition, so dass sogar ein neuer Religionskrieg ausbrechen könnte. Verwirrung und Unsicherheit bestimmen den Alltag der Bürger Britanniens. Eine immer größer werdende Zahl von Glücksrittern und Spekulanten versucht allerdings, aus der undurchschaubaren Lage wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen. Überaus beliebt ist vor allem der Handel mit Aktien geworden. Mit der großen Politik und der Hochfinanz hat der junge Benjamin Weaver auf den ersten Blick wenig zu tun. Der ehemalige Faustkämpfer verdingt sich nun als Privatermittler und Leibwächter. Das gilt kaum als standesgemäße Tätigkeit für einen echten Gentleman, der sich der körperlichen Arbeit tunlichst fernzuhalten hat. Aber Benjamin ist ein Einzelgänger und Außenseiter, und das in mehr als einer Beziehung. Er ist das schwarze Schaf der angesehenen und vermögenden Kaufmannsfamilie Lienzo, mit der er sich vor langer Zeit überworfen und deren Namen er abgelegt hat - und er ist Jude. Damit bleibt ihm in einer Zeit, in der Religionsfreiheit ein Fremdwort ist und Nächstenliebe sich auf die christlichen Mitbürger beschränkt, deren Toleranzschwelle gefährlich niedrig liegt, ein echter gesellschaftlicher Aufstieg ohnehin verwehrt. William Balfour, Benjamins neuem Klienten, scheint dagegen die ganze Welt offenzustehen. Sein vornehmes Gehabe ist allerdings hauptsächlich Maske. Vor zwei Wochen erst hat sich sein Vater umgebracht. Nachdem er sich an der Börse verspekuliert hatte und seine Gläubiger nicht auszahlen konnte, blieb ihm als Ehrenmann praktisch nur dieser letzte Ausweg. Doch Michael Balfour habe nicht Selbstmord begangen, behauptet nun sein Sohn; er sei ermordet worden, nachdem er einer Verschwörung auf die Spur gekommen sei, deren Mitglieder sich durch ungeheuerliche Börsenmanipulationen über alle Maße bereichern. Noch schlimmer: Auch Benjamins Vater, angeblich vor zwei Wochen bei einem Verkehrsunfall umgekommen, hätten die Drahtzieher aus dem Weg räumen lassen! Benjamin mag nicht glauben, was er hört. Andererseits erinnert er sich nun, dass sein Vater und Michael Balfour tatsächlich alte Geschäftsfreunde waren und ungeachtet der gesellschaftlichen Schranken auch privat miteinander Umgang pflegten. Deshalb übernimmt er den Fall - und begibt sich ahnungslos in eine wahre Schlangengrube, deren Bewohner schon nach kurzer mit allen Mittel danach trachten, der langen Liste ihrer Verbrechen den Mord an einem allzu neugierigen Spielverderber beizufügen ... Es gibt ihn also doch, den historischen Kriminalroman, der diesen Namen auch verdient. Leider beschränkt sich die kreative Leistung der meisten Schriftsteller, die sich in diesem Genre tummeln, in der Regel darauf, der Rose einen anderen Namen zu geben. Ansonsten rekonstruieren sie die versunkene Welt der Vergangenheit auf einem Niveau, das dem der Mittelalter-Märkte entspricht, die hierzulande über Stadtfeste und Wirtschaftsschauen mittelgroßer Provinzstädte gaukeln. Lehnsherr böse, Bischof bigott, Schankwirt schwatzhaft, Magd drall, Äbtissin weise, Jude klug, Novize neugierig, Ritter edel - dies ist nur eine kleine Auswahl im dem schier bodenlosen Topf von Klischees, aus dem, wir armen Leser immer wieder abgespeist werden. Doch solche dürftige Kost macht auf Dauer nicht satt. "Vergangenheit" ist mehr als ein kunterbuntes Durcheinander altertümlich anmutender, vor allem aber exotischer Kulissen, Figuren und Gebräuche. Die Welt von 1719, in die uns David Liss in seinem Roman Einblick gewährt, mag uns Nachgeborenen konfus und fremdartig erscheinen; auf die Zeitgenossen traf dies ganz und gar nicht zu. Sie lebten in ihrer Welt, und folglich kannten sie die geschriebenen wie die ungeschriebenen Gesetze und Regeln, an die sie sich (meist) ganz selbstverständlich hielten. Einen guten historischen (Kriminal-)Roman erkennt man daran, dass sein/e Verfasser/in Zeit, Ort und Personen der Handlung wirklich kennt und berücksichtigt. Es geht auch nicht darum, um jeden Preis authentisch zu sein. Der Laie erkennt die meisten Anachronismen wohl auch gar nicht. Das ist aber kein Freibrief, die Leser vorsätzlich für dumm zu verkaufen - und sie merken so etwas übrigens deutlich früher, als ihnen dies viele Autoren offenbar zugestehen möchten. Wie nachhaltig der fortwährende Verstoß gegen diesen einfachen Grundsatz den Lesespaß mindert, macht z. B. Michael Crichton in "Timeline" deutlich - weniger ein Roman als ein armseliger Maskenball, bevölkert von Rittersleuten aus Xenas Rumpelkammer für unterbezahlte Hollywood-Statisten. "Die Papierverschwörung" zeigt, wie man es richtig macht, ohne dass die Spannung darunter litte. Im Gegenteil: Eben weil Autor Liss seinem Publikum Benjamin Weaver und die Welt, in der er lebt, nicht nur vorstellt, sondern dies auch in die Handlung zu integrieren weiß, stellt er die Weichen für eine unglaubliche, aber eben glaubwürdige Geschichte, die vom Start weg auf sorgfältig gelegten Schienen und nur im Mittelteil durch einige Steigungen verlangsamt ihrem furiosen Finale entgegenstrebt. Natürlich liegt der Vergleich mit John Grisham nahe - mit einem eindeutigen Punkt-, wenn nicht K. O.-Sieg für David Liss übrigens. Der Mikrokosmos der Börse und die Hochfinanz, Schauplatz waghalsiger Spekulationen und Betrügereien, die binnen kürzester Zeit aus strahlenden Gewinnern ruinierte Verlierer und umgekehrt machen kann, funktioniert als Kulisse 1719 genauso gut wie 2001 - vielleicht sogar besser, denn wer fände es nicht interessant zu erfahren, wie denn einst diese eigentümliche Welt entstanden ist, in der Tom Cruise oder Keanu Reaves heute tüchtig gegelt und im Power-Anzug so eine gute Figur machen? Denn Aktien sind ja zunächst einmal wirklich nur Papier. Erst der feste Glaube daran, dass sie reale Werte repräsentieren, lässt sie zum Handelsobjekt werden. Wie jeder Möchtegern-Spekulant, der in den vergangenen fünfzehn oder zwanzig Monaten auf dem vielbesungenen "Neuen Markt" eine mächtige Bauchlandung hingelegt hat, wohl bestätigen kann, übt die Börse dieselbe magische Anziehungskraft wie das Labor eines mittelalterlichen Alchimisten aus: Man versteht nicht wirklich, was dort vorgeht, hofft aber, es werde Gold dabei entstehen. Menschen, die es eigentlich besser wissen müssten, verlieren buchstäblich den Verstand, wenn dies dann tatsächlich klappt - oder auch nur zu klappen scheint! Doch wo das Blut (bzw. Geld) von Dummköpfen im Wasser treibt, bleiben die Haie nicht lange fern. Für Betrüger und Diebe muss die Börse von 1719 so etwas wie das Schlaraffenland gewesen sein: noch diffus und im der Entwicklung begriffen, ohne echte Gesetze und Regeln, undurchschaubar sogar für jene, die hier tagtäglich ihre Geschäfte abschlossen. Welche Möglichkeiten boten sich hier dem, der geschickt und skrupellos genug war, die Gier und die Unerfahrenheit der gutbetuchten Masse auszunutzen! Liss zeigt sie uns hier auf - und da er als Doktorand an der Columbia University mehrere Jahre wissenschaftlich untersuchte, was er später (und wesentlich lukrativer ...) in Romanform goss, wundert es nicht, dass er das vermeintlich komplizierte und trockene Thema nicht nur beherrscht, sondern vortrefflich zum Leben erwecken kann. (Es folgt ein Abriss über die Frühgeschichte der englischen Börse, der sich vom historisch weniger interessierten Leser problemlos überspringen lässt, aber andererseits recht spannend ist und mehr Hintergrundinformation liefert, als Liss uns huldvoll zugestehen mag.) Fakt ist, dass David Liss zwar einen Roman geschrieben hat, dieser jedoch fest im Boden historischer Tatsachen verwurzelt ist. Der "Große Südsee-Schwindel" begann in England 1711 mit der Gründung einer Gesellschaft, die der Regierung dringend benötigtes Geld verschaffen sollte. Die "Südsee-Gesellschaft" versprach jenen, die in die Entwicklung der überseeischen Kolonien investierten, hohe Dividenden. Als sie 1720 anbot, gleich mehrere Millionen Pfund Staatsschulden gegen die Erlaubnis zu übernehmen, ihr Kapital unbegrenzt und zu jedem Kurs erhöhen zu dürfen, brach beim hohen Lord wie beim armen Hausierer das Spekulationsfieber aus. Geld wurde ohne Sinn oder Verstand, aber in wahnwitzigen Summen in die Gesellschaft gepumpt. Niemand schien sich daran zu stören, dass man in eine höchst ungewisse Zukunft investierte und dem Kapital keinerlei reale Sicherheit gegenüberstand. Unentwegt wurden die Aktienkurse vom gewissenlosen Direktorium der Südsee- Gesellschaft künstlich in die Höhe getrieben. Sie setzten Gerüchte in die Welt - bald gäbe es Verträge zwischen England und Spanien; der Freihandel mit allen spanischen Kolonien und damit der Zugriff auf die Gold- und Silberminen Südamerikas sei praktisch garantiert. Diese Ankündigten entbehrten jeder politischen Grundlage, doch sie wurden geglaubt, weil sie geglaubt werden wollten. Eine Mittsommerdividende von fabelhaften 10% wurde 1720 angekündigt, die auch Neuzeichnern zugute kommen sollte. Binnen weniger Stunden waren anderthalb Millionen Aktien gezeichnet. Im Umfeld der Südsee-Gesellschaft gingen überall neue Firmen (u. a. zur Versorgung Londons mit Kohlen aus dem Meer oder zur Herstellung des Perpetuum Mobile ...) an die Börse - und auch hier investierte die Bevölkerung praktisch blindwütig. Dabei wurden diese Neugründungen von besonnenen Zeitgenossen nicht umsonst "bubbles" genannt. Aber ein Wahnsinn hatte die Menschen befallen: Die "Gesellschaft zur Durchführung eines überaus nützlichen Unternehmens, das aber noch niemand kennt"(Liss kann nicht widerstehen, sie in seinem Roman zu erwähnen) zeichnete in sechs Stunden eintausend Aktien à zwei Pfund Anzahlung je 100-Pfund-Aktie ... Nach acht Monaten platzte endlich die ganz große Blase. "Dann, im Sommer 1720, wachte London auf und sagte: ‘Aus welchem Grund sind diese Aktien eigentlich so viel wert?", fasst Liss in einem genialen Satz das Umkippen der Situation zusammen. Quasi aus heiterem Himmel begannen die Möchtegern-Spekulanten zu Tausenden zu verkaufen. Nicht einmal die Einpeitscher und Betrüger konnten diese Sturmflut noch eindämmen. Der Kurs sank ins Bodenlose - und da war nichts, mit dem die Südsee- Gesellschaft hätte haften können. Das Direktorium hatte das Geld der verblendeten Tröpfe abgeschöpft - und der Staat seinen Anteil davon bekommen! Die Ernüchterung war unbeschreiblich: "Tausende von Familien werden an den Bettelstab kommen. Die Bestürzung ist unbeschreiblich, der Zorn riesengroß und die Lage so verzweifelt, daß ich keine Möglichkeit sehe, das Unglück abzuwenden. Ich habe keine Ahnung, was als nächstes zu tun wäre", schrieb der Unterhausabgeordnete Broderick am 13. September 1720 an Lordkanzler Middleton. Einige Köpfe rollten, aber letztlich geschah genau das, was Broderick befürchtet hatte. Zehntausende hatten wie die Balfours beim Tanz um das Goldene Kalb alles verloren. Unbeschreibliches Elend war die Folge. Praktisch zeitgleich schüttelten ganz ähnliche Börsenskandale den europäischen Kontinent: Die Menschen lernten auf die ganz harte Tour, dass das Papier den Stein tatsächlich schlagen kann. Benjamin Weaver werden wir wohl bald wieder begegnen. Er gibt zum Ende seines Berichtes der eigenen Überraschung Ausdruck, dass das, was eigentlich seine Biografie werden sollte, in den ersten Monaten seiner Laufbahn als Diebesfänger verharrt sei, dabei habe er später noch ganz andere Abenteuer erlebt! Wir dürfen sie mit gerechtfertigter Spannung erwarten!