Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jonathan Lethem
Motherless Brooklyn

Original: Motherless Brooklyn
Tropen gebunden
ISBN 3-932170-48-2

Das Waisenhaus St. Vincent in Brooklyn, frühe siebziger Jahre.
Für Lionel Essrog, der am Tourette-Syndrom leidet (einem unkontrollierbaren Zwang, Unsinn zu reden, jede erreichbare Oberfläche zu berühren und umherliegende Gegenstände zu arrangieren), ist Frank Minna so etwas wie ein Erlöser.
Der im ganzen Viertel beliebte Ganove taucht eines Tages auf und nimmt Lionel und drei weitere Waisen mit auf seine mysteriösen Streifzüge quer durch Brooklyn.
Aus den vier Jungen werden so die Minna Men, die von Detektei- bis Fahrdiensten alles anbieten. Ihre Tage und Nächte drehen sich um Frank, den Prinzen von Brooklyn, der mit großer Klappe durchs Leben eilt. Dann kommt die Nacht, in der Frank niedergestochen aufgefunden wird und Lionel selbst den Fall übernehmen muss.
Auf der Suche nach Franks Mörder gerät er tiefer in Brooklyns Unterwelt und versucht, sich in den Verflechtungen aus Drohungen und Gefälligkeiten zurechtzufinden, die die geheimen und undurchsichtigen Gesetze dieses Viertels ausmachen.
Seine Tourette-Anfälle machen ihn dabei zu einem Sonderling, der aber herausfindet, dass niemand ist, was er zu sein schien: weder Frank, noch seine verbitterte Frau Julia - nicht einmal die Minna Men.

Erläuterung:

Das Tourette-Syndrom ist Ende des 19. Jahrhunderts erstmals von dem französischen Mediziner Gilles De La Tourette erforscht worden.
Die Patienten dieser organischen Störung leiden unter sogenannten Tics, zwanghaften Bewegungsabläufen oder Lautäußerungen, die sich als Repetitionen, Wortverdrehungen und Beschimpfungen zeigen und immer wieder einzeln oder serienartig auftreten können.
Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben als vermutliche Ursache eine Fehlfunktion im Zusammenspiel verschiedener Hirnzentren.
Weitere Informationen (z.B. zu Forschung, Geschichte, Statistik, persönliche Erfahrungsberichte, Filme und Bücher, die sich mit der Krankheit beschäftigen oder in der sie thematisiert wird) sowie die Möglichkeit, sich in einem Forum oder via Kontakt zu einer Regionalgruppe mit Betroffenen auszutauschen, finden sich auf www.tourette.de .

. Rezension:
Schlimm, in den siebziger Jahren in einem Waisenhaus aufwachsen zu müssen.
Noch schlimmer, wenn dieses sich im tiefsten Brooklyn befindet.
Nahezu unvorstellbar jedoch, wenn man - wie der Ich-Erzähler - ein "Touretter" ist, dessen Tic im Alter von zwölf Jahren darin besteht, seine Mitmenschen anfassen, umarmen und küssen zu müssen ... Nicht wirklich der beste Weg sich an einem solchen Ort Freunde zu machen, zumal niemand dieses Verhalten wirklich als Ausprägung einer Krankheit erkennt.
Klar, dass es da fast ein Quantensprung ist, als plötzlich dieser Mann - Frank Minna - ankommt und ein Quartett bis dato lose verfeindeter Jungs (alle ohne Anverwandte, daher "Motherless Brooklyn") regelmäßig aus dem Heim holt, damit sie Transportarbeiten für ihn durchführen.
Die Entlohnung ist nicht der Rede wert (ein paar Dollar, ein Bier, etwas zu essen), aber für diese Kinder ist es, als hätten sie eine neue Familie gefunden. Der Kleinganove Minna bringt ihnen mehr über das Leben bei, als alle ihre Lehrer zusammengenommen. Er ist es auch, der dafür sorgt, dass Protagonist Lionel, sein Etikett "Freakshow" erhält - so wie Tony der Italiener und Gilbert nicht eben mit Geistesgaben gesegnet ist - und genau dadurch Teil der Gemeinschaft wird. Und Minna ist es zu verdanken, dass Lionel endlich weiß, woher seine Tics kommen und dass er nicht der einzige Mensch auf der Welt ist, der an "so etwas" leidet.
Wen wundert es also, dass Frank Minna für diesen Jungen eine ganz besondere Bedeutung bekommt. Seine Leichtigkeit, das Leben zu nehmen und sein Witz - das beeindruckt und prägt Lionel.
So will er werden, so MUSS er werden.
Minna hilft ihm aus der Sprachlosigkeit, um ihn in eine Flut von Worten zu stürzen - als Ergebnis ergänzt bzw. ersetzt "der Freak" seine bisherigen Tics durch Echolalie (das unfreiwillige Wiederholen von Worten), Koprolalie (das zwanghafte Ausstoßen von Flüchen oder Obszönitäten), dem Bedürfnis frei zu assoziieren oder Wortspiele zu kreieren.
- Großes Kompliment an dieser Stelle an Übersetzer Michael Zöllner, der seinerseits wahre Meisterleistungen bei der Bildung ähnlich klingender Wortschöpfungen vollbracht hat -
Schnitt - Zwei Jahre später:
Minna, den irgendjemand ziemlich massiv aus der Stadt vertrieben hat, kehrt zurück - verbittert, härter, entschlossener und mit einer neuen Aufgabe für "seine Jungs": Detektive werden. In der Praxis stellt es sich allerdings so dar: angezapfte Leitungen abhören, Geld eintreiben, mysteriöse Pakte abholen, Leute beschatten oder durch ihre pure Präsenz einschüchtern.
Schnitt - nochmals 15 Jahre später:
Frank Minna ist tot.
Umgebracht.
Fast vor den Augen seiner Schützlinge.
Grund genug für Lionel Essrog - ungeachtet der damit verbundenen Schwierigkeiten, Drohungen, ja sogar Gefahren für sein eigenes Leben, alles daran zu setzen, die Person(en) zu finden, die für den Tod seines Mentors verantwortlich ist/sind.
Was dann passiert, ist nicht nur spannend, sondern eine unglaublich rasante Verfolgungsjagd, deren Tempo durch die periodisch auftretenden Anfälle des Helden auf teilweise fast unerträgliche Weise gesteigert wird.
So fühlbar sind seine Qualen, dass sich auch der Leser dem hilflosen Ausgeliefert sein kaum entziehen kann. So etwa wenn der Touretter vergeblich versucht, sich zu artikulieren und einen wichtigen Sachverhalt klar zu schildern, doch stattdessen von seinen Tics kontrolliert und beherrscht wird. Man möchte ihm helfen - wie einem Stotterer oder einem Dreijährigen in seiner Wortfindungs-Phase - und kann es doch nicht.
Dann kommt der Punkt, an dem es dem Leser absolut nachvollziehbar, ja fast logisch erscheint, alles sechsmal berühren zu müssen, auf Oberflächen zu klopfen, permanent die eigene Umgebung ins Visier zu nehmen.
Angereichert wird das Ganze durch die stellenweise (unfreiwillige) Komik mancher Situationen - wenn etwa der Detektiv der Mordkommission der Ansicht ist, Lionel spräche in super-heißem Straßenslang mit ihm, während dieser nur seine Koprolalie auslebt: "Tourette ist der Shitsohn" "Keine Angst, ich werde ihm nicht sagen, wer ihn verraten hat."
Alles in allem kann man sagen, dass es hier einem Autor gelungen ist, einen packenden Krimi, hintergründige Handlung, Action und Witz inklusive, und gleichzeitig eine ungemein interessante Story in der Story zu schaffen: dem Leser nämlich Einblick zu verschaffen in das Leben mit dem Tourette-Syndrom, ohne die Betroffenen dabei vorzuführen.
Fazit: 370 Seiten, bei denen sich jede Zeile lohnt - unbedingt lesen!

Miss Sophie