Das Buch direkt bei Amazon bestellen Andreas Marneros
Schlaf gut, mein Schatz - Eltern, die ihre Kinder töten

Scherz gebunden
ISBN 3-502-15453-8

Warum töten Eltern ihr eigenes Kind?
Der Psychiater und Gerichtsgutachter Andreas Marneros beleuchtet den Hintergrund solcher Taten und fragt nach ihrer möglichen Prävention.
Denn die Fallgeschichten, die er erzählt, machen deutlich, dass Kindstötung nicht immer aus Brutalität oder Vernachlässigung geschieht, sondern oft unter dem Diktat einer schweren psychischen Krankheit, deren frühzeitige Erkennung und Behandlung tragische Folgen unter Umständen verhindern kann.

Rezension:
Noch keine zwei Jahre ist es her, da wühlte ein fürchterlicher Vorfall die amerikanische Öffentlichkeit ebenso wie Frauen und Männer im Rest der Welt auf: Die 37-jährige Andrea Yates hatte all ihre Kinder zwischen sieben Jahren und sechs Monaten in der Badewanne ertränkt. Das tat die Ehefrau eines NASA-Technikers mit einem 80.000-Dollar-Jahreseinkommen, die jahrelang als Krankenschwester auf einer Krebsstation gearbeitet und ihren an Alzheimer erkrankten Vater gepflegt hatte, aber nicht, weil sie ihre Kinder hasste, sondern um ihnen das Leid zu ersparen, an derselben schrecklichen Krankheit zu erkranken wie ihre Mutter, nämlich einer tiefen, finsteren Depression.
Nicht diesen, aber ähnliche Fälle - ihm allesamt durch einen persönlichen Kontakt mit den Tätern bekannt - stellt der renommierte Professor für Medizinische Psychologie Marneros in seinem Buch vor, das einen Erklärungsansatz liefern möchte für die schlimmste Tat, die man sich vorstellen kann, die Tötung des eigenen Kindes.
Und wo jede Mutter, jeder Vater zunächst aufschreien möchte "Wie kann man nur!" und jegliche eigene Neigung zu einem ähnlichen Verhalten weit von sich weisen würde, macht die Lektüre des vorliegenden Sachbuches doch bereits nach wenigen Seiten sehr, sehr nachdenklich.
Zu klar wird plötzlich die verquere Denkstruktur, die Frauen wie Anne und Männer wie Bertold dazu treiben, ihre über alles geliebten Kinder per erweitertem Suizid mitzunehmen in den Tod, um sie nicht allein auf der Welt zurücklassen zu müssen.
Denn sowie Autor Marneros den furchtbaren Teufelskreis der schweren Depression beschreibt, inklusive Versagensängsten und Losigkeitssyndrom (womit man den kompletten Verlust etwa von Freude, Hoffnung, Schlaf, Appetit, Sinn, Antrieb o.ä. bezeichnet), wird das Verhalten der beschriebenen Täter auch für den Laien nachvollziehbar. Und schnell kommt die Frage auf, ob diese Menschen, die ja den mit dem Mord an ihrem Kind verbundenen Versuch der Selbsttötung überlebt haben, nicht vielmehr auch zu den Opfern gezählt werden müssen.
Marneros will sie keineswegs entschuldigen, die Frauen und Männer, die ihre Kinder vergiftet, erstochen, erschlagen oder ertränkt haben.
Was der geborene Zypriote, heute als Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg tätig, aber möchte, ist, die Umwelt zu sensibilisieren für Anzeichen von solch schweren psychischen Störungen, um potentielle Täter einer Behandlung zuzuführen, BEVOR sie das anrichten, was nie wieder ungeschehen gemacht werden kann.
Sehr unterschiedlich sind die von dem forensischen Psychiater geschilderten Fälle - sowohl was Ausgangssituation, Tathergang, aber auch Auslöser und Grund für die schreckliche Handlung anbetrifft.
Da wären einmal der bereits erwähnte erweiterte Suizid, der sowohl über längeren Zeitraum geplant (und wieder verworfen) auftreten kann als auch als Folge eines Raptus, eines urplötzlich aufgetretenen Anfalls. Dann handelt es sich um einen wirklichen Kurzschluss im Gehirn (mit einer Störung bei der Botensubstanz, den Neurotransmittern) und somit einer physischen Erkrankung.
Aber neben einer längeren Vorgeschichte mit Depressionen kennt der Mediziner auch Fälle, in denen eine bestimmte Situation einen gedanklichen Prozess auslöst, bei dem als letzter Ausweg nur die Tötung des Kindes bleibt, um ihm ein (vermeintlich) schlimmeres Schicksal zu ersparen (etwa die Aussicht auf eine Haftstrafe der Mutter, oder die "Schande", die als Folge einer Zwangsvollstreckung gefürchtet wird).
Darüber hinaus referiert Marneros über negierte Schwangerschaften, Tötung aus Rache (am Partner, also dem anderen Elternteil des Kindes) und solche durch Vernachlässigung, Misshandlung oder unter dem Einfluss von Wahn und Halluzinationen.
Jedem der beschriebenen Fallbeispiele sind ausführliche Erklärungen beigefügt, so dass das Buch durchaus eine wissenschaftliche Grundlage besitzt und keineswegs gleichzusetzen ist mit den Artikeln der Sensationspresse zu dieser Thematik.
Ein außerordentlich wichtiges - wenn auch oft sehr verstörendes Buch, das man all jenen als Pflichtlektüre verordnen sollte, die vorschnell bei der Hand sind mit einer pauschalen Verurteilung jener Eltern, die ihre Kinder töteten. Und vielleicht - man möchte es sich wünschen - tatsächlich ein Instrument zur Prävention von ähnlichen grauenvollen Ereignissen.

Miss Sophie