Das Buch direkt bei Amazon bestellen Andrea Camilleri Christiane von Bechtolsheim
Der zweite Kuss des Judas

Original: La scomparsa di Patò
aus dem Italienischen von Christiane von Bechtolsheim
editionLübbe gebunden
ISBN 3-7857-1536-6

Vigàta, 1890.
Ein mysteriöses Geschehen hält die Bewohner des sizilianischen Küstenstädtchens in Atem. Am Karfreitag, während der Aufführung des Passionsspieles verschwand auf rätselhafte Weise Ragioniere Antonio Patò, der Direktor einer örtlichen Bankfiliale. Wie jedes Jahr verkörperte der untadelige Familienvater mit großer schauspielerischer Kunst den Judas und wurde seit seinem dramatischen Abgang von der Bühne nicht mehr gesehen.
"Verschwunden oder ermordet?" - auf einer Mauer ist zwei Tage später die Frage zu lesen, die sich jeder stellt.
Hat ein Verrückter im religiösen Wahn den Schauspieler für den echten Judas gehalten und sich für den Verrat an Jesus Christus gerächt?
Hat ein verschuldeter Kunde der Bank die Gelegenheit genutzt, sich des unerbittlichen Gläubigers zu entledigen?
Oder ist Patò als Verkörperung des Judas zur Hölle gefahren?
Commissario Ernesto Bellavia und Maresciallo Paolo Giummàro, offiziell mit der Lösung des Falles beauftragt, können sich über einen Mangel an öffentlichem Interesse und phantasievoller Hilfsbereitschaft nicht beklagen.
Doch das, was sich schließlich als die Wahrheit herausstellt, sorgt für eine gewaltige Überraschung.

Rezension:
Die gute Nachricht: Erfolgsautor Andrea Camilleri beschränkt sein schriftstellerisches Talent nicht auf die Geschichten rund um den im heutigen Sizilien ermittelnden Commissario Montalban, sondern präsentiert auch das "historische" (und nach wie vor fiktive) Vigàta mit einer ebenso ungewöhnlichen, wie skurrilen Geschichte nebst ebensolchen Figuren.
Die "schlechte" Nachricht: Er tut dies mit Mitteln, die es dem Montalban-Fan schwer machen, am Ball der Handlung zu bleiben, indem er Zeitungsartikel, Briefe, Protokolle und Akten unterschiedlichster Provenienz aneinanderreiht, bis sich der Leser selbst ein Bild vom Geschehen machen kann.
Da steht dann eine in sehr ländlicher und direkter Sprache gehaltene Vermisstenanzeige voller Rechtschreibfehler neben einem umständlichen vertraulichen Bericht, das Ganze wird sodann ergänzt durch den lapidaren Text eines Flugblattes oder einen ausgefeilten Tageszeitungsartikel.
Diese literarische Form macht es durchaus möglich sich manchen Besonderheiten und Absonderlichkeiten der italienischen Lebensweise, Kultur und Politik auf vergnügliche Weise zu nähern - ist jedoch dem Fluss der Handlung, wie es die meisten Leser gewohnt sind, nicht wirklich zuträglich.
Aus diesem Grund ist der Roman nur eingeschränkt empfehlenswert - für echte Italien-Fans, die gerne auch einmal einen Blick "hinter die Kulissen" tun, ein Muss. Denn was sich im erfundenen Städtchen in längst vergangenen Tagen abgespielt hat, könnte durchaus Parallelen zu aktuellen Ereignissen aufweisen; was natürlich nie jemand zugeben würde …

Miss Sophie