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Die dunkle Stunde der Serenissima - Commissario Brunettis elfter Fall

(11. Band)
Original: Wilfur Behaviour
Deutsch von Christa E. Seibicke
Diogenes gebunden
ISBN 3-257-06343-1

Gerade hat Paola Brunetti ihre Vorlesung zum Ehrbegriff bei Edith Wharton beendet, da kommt eine ihrer Studentinnen, die junge Claudia Leonardo, mit einer Frage zu ihr: Ein dunkler Fleck in der Vergangenheit ihrer Familie lässt ihr keine Ruhe. Ihr Großvater wurde vor Jahren ehrenrühriger Geschäfte beschuldigt. Was könne man tun, um seinen Ruf wiederherzustellen? Paolas Mann kenne sich doch mit den Gesetzen aus.
Noch bevor der Commissario und Paola herausbekommen haben, was hinter den Nöten des Mädchens steckt, ist Claudia tot.
Verborgene Schatzkammern, Sammler, Agenten und üble Machenschaften: Brunettis Nachforschungen führen zurück in den Krieg, eine Zeit, über die auch sein eigener Vater und sein Schwiegervater, Conte Orazio, nie viele Worte verloren haben.
Kollaboration und Schiebereien, edle Kunst und Spekulanten, die sich an ihr bereichern: In der dunklen Stunde der Serenissima sind jene am Werk, für die Schönheit käuflich ist.
Spannend, atmosphärisch und bedrohlich: Commissario Brunetti nimmt es mit gefährlichen Gegnern auf, und die Schatten der Vergangenheit sind länger als er ahnt…

Rezension:
"… Weil ich wissen will, wie es ausgeht!"
antwortet Commissario Brunetti auf die Frage seiner Frau, warum er denn nach wie vor einen Beruf ausübt, der so viel Unschönes und Unabänderliches mit sich bringt.
Genau dieses Motiv bewegt aber auch den Leser, der dem nunmehr elften Fall des sympathischen Venezianers mit ständig steigender Spannung bis zum überraschenden Finale folgt.
Da ist die junge Studentin Claudia; zurückhaltend, wissbegierig, geschichtsinteressiert und mit einer Reihe - im Vergleich zu anderen Twens ihres Alters - höchst antiquierter Tugenden ausgestattet. Ihr gewaltsamer Tod bestürzt dem Kommissar und seine Frau gleichermaßen und macht einen normalen "Fall" zu einer persönlichen Angelegenheit.
Doch damit nicht genug: stellen sich doch nach und nach Verflechtungen zu anderen Familien der Lagunenmetropole heraus, die noch unmittelbareren Bezug zu Brunetti selbst haben und damit den Ermittlungen eine höchst emotionale Komponente hinzufügen.
Wieder schon in vergangenen Romanen der Wahl-Venezianerin Leon sind der Krieg, die Machenschaften der Deutschen und der Faschisten, sowie die Aktivitäten der Partisanen ein Thema - neben den bis in die Gegenwart hineinreichenden Auswirkungen von damals begangenen Verbrechen.
Und wie eigentlich in jedem "Brunetti" stößt die Autorin ihre Leser förmlich mit der Nase darauf wie Korruption und Willkür der Mächtigen ins tägliche Leben der Italiener eingreift. Ganz egal, ob es um Baugenehmigungen geht, die nur mit Schmiergeldern zu bekommen sind oder um Lustgreise an der Universität, deren Belästigung von Studentinnen und Dozentinnen höchstens zu einer temporären Freistellung (bei vollen Bezügen versteht sich) bis zur Pensionierung führt. Die Tatsache, dass jeder um diese Zustände weiß - auch und gerade die Behörden - dies aber genau gar nichts an der Situation ändert, macht die Dinge nur noch schlimmer. "Das System" ist übermächtig - und bleibt es bis zum Schluss.
"Die dunkle Stunde der Serenissima" (der Name dies, den sich die Republik Venedig selbst im 15. Jahrhundert gegeben hatte) enthält wieder einmal alles das, was die Fans an ihren Brunetti-Romanen so lieben: Eine zunächst recht undurchschaubare Handlung mit zahlreichen potentiellen Motiven und Verdächtigen, witzige Wortgefechte und Gedankengänge, ungewöhnliche Ermittlungsmethoden - ebenso elegant wie illegal durchgeführt von Signorina Elettra (die ihren ersten Auftritt diesmal erst nach gut 130 Seiten hat) und mehr als ein Exkurs ins Innenleben des Protagonisten.
Etwa wenn er Überbringer von schlechten Nachrichten zu sein hat, dann ist dies eine Bürde, die schwer wiegt - und der Leser spürt es.
Genau wie er mit dem Helden leidet, wenn dieser dort, wo er die Missstände sieht, nicht helfen kann bzw. mit gebundenen Händen zusehen muss, wie sich die wahren Schuldigen unbeschadet aus jeder Affäre ziehen.
Ganz besonders interessant für jene, die dem Feinschmecker Brunetti seit nunmehr elf Jahren die Treue halten: Der Wandel, den er selbst, einige der Nebenfiguren und ihre Beziehung untereinander vom ersten Band bis heute durchgemacht haben. So ist gerade in der Beziehung zwischen dem Kommissar und seinem Schwiegervater aus einer recht distanzierten Haltung ein Gefüge nicht nur von gegenseitigem Respekt geworden, sondern es hat sich stellenweise fast eine verhaltene Zärtlichkeit und Nähe entwickelt.
Schon allein aus diesem Grund ist der Roman ein Muss für jeden Fan dieses überaus menschlichen Protagonisten, dessen Handlungsweise und Gedankengänge vielleicht zwangsläufig ihr ganz eigenes Tempo haben müssen, in einer Stadt, die der Bürger mehrheitlich zu Fuß oder zu Boot durchquert und deren Leben vom Fluss des Wassers bestimmt wird.
Und man darf gespannt sein, wie der neue "Brunetti" Uwe Kokisch (an der Seite von Julia Jäger als Paola; die beiden treten an die Stelle von Joachim Król und Barbara Auer) diesen Wesenszug in der fünften und sechsten TV-Verfilmung der Romane (Ausstrahlung voraussichtlich Oktober 2003) deutlich machen wird.

Miss Sophie