Das Buch direkt bei Amazon bestellen Donna Leon Christa E. Seibicke
Verschwiegene Kanäle - Commissario Brunettis zwölfter Fall

Original: Uniform Justice
Deutsch von Christa E. Seibicke
Diogenes gebunden
ISBN 3-257-06390-3

An einem kalten, grauen Novembermorgen wird in der Kadettenschule von San Martino der sechzehnjährige Ernesto Moro erhängt im Waschraum aufgefunden.
Bringt sich ein so junger Mensch grundlos um? Oder vertuscht hier jemand etwas, um seinen guten Ruf zu schützen?
Als die Polizei dies klären will, stößt sie auf eine Mauer des Schweigens: Die Ränge haben sich geschlossen. Niemand, weder die Lehrer noch die gedrillten Mitschüler, ja nicht einmal die Familie will Genaueres darüber wissen.
Doch Brunetti lässt jener Junge, dessen Vater Fernando Moro berühmt ist für seine politische Unerschrockenheit, nicht los. Selbst Vater, ruht er nicht, bis er die wahren Hintergründe aufgedeckt hat.
Eliten und ihre Loyalitäten: Donna Leon ergründet die verschwiegenen Kanäle zwischen militärischer und politischer Macht.

Rezension:
Einmal, nur einmal möchte man, dass die Gerechtigkeit siegt und der Übeltäter seiner Strafe zugeführt wird … Doch leider ist diese Hoffnung vergeblich, sobald die Autorin „Leon“ und der Protagonist „Brunetti“ heißen.
Deswegen werden auch in diesem Fall, bei dem stärker noch als sonst die typischen Gegensätze italienischen Lebens aufeinander prallen, zwar die Umstände des Todes eines sechzehnjährigen Kadetten geklärt, die Verantwortlichen aber dennoch nicht zur Rechenschaft gezogen.
Und wieder einmal gehen Korruption, Gewalt und Omertà – das Schweigen der Eingeschüchterten – Hand in Hand; offensichtlich für jeden, der Augen hat, um zu sehen und ein Gehirn, um zwei und zwei zusammenzuzählen und doch nicht nur geduldet, sondern fast schon geschützt und gestützt in einer Gesellschaft, in der das Hauptanliegen einer Vielzahl von Regierungsstellen darin besteht, Geld für Freunde und Verwandte abzuzweigen …
Brunetti – von dem wir uns so manches Mal fragen, warum dieser Mann eigentlich noch bei einer Behörde Dienst tut, die seine Arbeit nicht nur nicht würdigt, sondern ihm, statt Unterstützung zu liefern, Knüppel zwischen die Beine wirft – ermittelt diesmal also in einer weiteren Parallelwelt. Denn wie Adel, Kirche und Verbrechen hat auch das Militär seine ganz eigenen Regeln und verwehrt jedem Außenstehenden Einblick oder gar Zutritt.
Unterstützt wird er bei seinen Nachforschungen und dem Bestreben, Licht ins Leben und Sterben des toten Jungen zu bringen, wie immer von der unvergleichlichen Signorina Elettra, deren Kontakte ebenso weitreichend wie besser ungenannt sind, dem grundgütigen und anständigen Vianello, jetzt zum Inspektor aufgestiegen, und einem viel versprechenden jungen Polizisten namens Pucetti.
Mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen kann der Leser zusammen mit diesen Protagonisten erleben, wie sich nach und nach ein Bild zusammensetzt, das gleichermaßen geprägt ist von Gier und Unverfrorenheit. Der Staat als Selbstbedienungsladen für all jene, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort sind und, natürlich ganz entscheidend, die richtigen Verbindungen haben. Und jeder weiß es und niemand tut etwas dagegen, weil es ja „schon immer so war“.
Das ist dann auch der Punkt, an dem der (ausländische) Leser und der (italienische) Held getrennte Wege gehen: Denn wo der eine fassungslos und ungläubig vor einem solchen Sumpf aus Korruption steht, schickt sich der andere – mit wundem Herzen zwar, aber so, wie alle vor ihm – in das, was als „Pazienza“ mit „Geduld“ nur sehr unzureichend übersetzt ist, bedeutet es doch vielmehr die Akzeptanz einer nicht zu ändernden, schicksalhaften Gegebenheit.
Das humoristische Element, das so manchem Brunetti-Band zuvor ein wenig die Schwere genommen hat, sucht der Leser diesmal bis auf wenige Ausnahmen vergeblich. Doch ist das auch kein Wunder: Der Tod eines Jugendlichen, der so alt ist wie Brunettis eigener Sohn, geht dem Ermittler mit Herz eben besonders nahe. Und vielleicht ist es auch die Müdigkeit, die sich zwangsläufig nach so vielen Jahren im Amt einstellen muss, wenn einmal mehr deutlich wird, dass auch der aufrechteste Polizist immer in einem System gefangen sein wird, dessen Werte zuweilen ganz anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen.
Ein anrührender und spannender Roman – und ein mutiges Abbild der italienischen Wahlheimat der Autorin noch dazu.

Miss Sophie