Das Buch direkt bei Amazon bestellen Arnaldur Indridason Coletta Bürling
Engelsstimme

Original: röddin
(5. Band)
aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Edition Lübbe gebunden
ISBN 3-7857-1551-X

Die Touristen strömen wie jedes Jahr nach Reykjavík, um das Weihnachtsfest einmal anders zu erleben. Da kann ein Portier, der erstochen in einem Kellerraum eines renommierten Hotels aufgefunden wird, das Geschäft gründlich verderben …
Dieser Mord ist durch und durch rätselhaft: Der Tote, der auf einer Weihnachtsfeier für Kinder den Weihnachtsmann spielen sollte, wurde im knallroten Kostüm, mit heruntergelassenen Hosen aufgefunden. Erlendur, Sigurour Oli und Elínborg von der Kripo Reykjavík werden gebeten, bei den Ermittlungen viel Fingerspitzengefühl und Diskretion walten zu lassen, denn der Verdacht fällt zunächst sowohl auf die Hotelangestellten als auch auf die ausländischen Hotelgäste.
Erlendur, der sowieso nicht weiß, was er zu Weihnachten mit sich anfangen soll - "Weihnachten ist nur was für glückliche Menschen" - quartiert sich kurzerhand im Hotel ein.
Nach und nach stellt sich heraus, dass der einsame Mann, der zwanzig Jahre in dem Keller des Hotels gehaust hat und keine Familie oder Bekannte zu haben scheint, als Kind eine wunderschöne Stimme hatte, eine "Engelsstimme" …

Rezension:
Besinnliche Vorweihnachtszeit weit oben im Norden, festlich geschmückte Strassen, Tannenzweige und glitzernde Kugeln in Häusern und Geschäften, Weihnachtslieder satt aus jedem Lautsprecher … und in der Abstellkammer eines der besten Häuser am Platz ein toter Weihnachtsmann, auf dessen Blut besudeltem Körper ebenso grotesk wie tragisch ein Kondom Zeugnis ablegt von den letzten Lebensminuten des Endvierzigers.
Kein leichter Fall für die Kriminalpolizei von Reykjavik – zumal jeder von ihnen seine ganz privaten Vorbereitungen für das Fest zu treffen hat oder, wie Polizistin Elinborg, emotional noch tief in eine ganz andere Strafsache verstrickt ist.
Doch wird bald klar, dass die Geschichte des misshandelten Jungen und seines honorigen und keineswegs geständigen Vaters so ganz anders gelagert gar nicht ist. Denn dort wie hier dreht es sich um das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, um ausdrückliche sowie unausgesprochene Erwartungen, Enttäuschungen, Angst und Gewalt.
Aber auch andere Familienbande werden nach und nach ans Licht der Handlung gefördert – plötzlich wimmelt es von Geschwistergeschichten. Da hatte das Opfer eine Schwester, einer der Verdächtigen ebenso und nicht zuletzt gab es ja viele Jahre zuvor auch den kleinen Bruder von Kommissar Erlendur, der auf schreckliche Weise in einer Winternacht, kurz vor dem Heiligen Abend, im Schneesturm verschwand und nie wieder gesehen wurde …
Alle fühlten sich zu irgendeinem entscheidenden Zeitpunkt irgendwie verantwortlich – und alle haben sie versagt.
Im Vergleich zu dieser – meist selbst auferlegten – Schuldzuweisung scheinen die im Verlauf berührten Vergehen wie Drogenmissbrauch, Erpressung, Prostitution fast banal zu sein, obschon sie natürlich letztendlich ebenfalls eine Rolle in diesem vielschichtigen Verbrechen spielen.
Und doch: Trotz der vielfach sehr schmerzlichen Erlebnisse, die teils in Rückblenden, teils zwischen den Zeilen die Verletzungen dokumentieren, die so gut wie alle Figuren dieses Romans im Laufe ihres Lebens erlitten haben, kommt „Engelsstimme“ leichter daher als die beiden Vorläuferbände.
Mag sein, dass dies an der Versöhnung zwischen Erlendur und seiner Tochter liegt, an ihrem stellenweise fast herzlichen, vor allem aber aufrichtigen und ehrlichen Umgang miteinander, der viele der Wunden heilt, die den Protagonisten und seine Leser in den vergangenen Romanen so belastet haben.
Es könnte aber auch daran liegen, dass Autor Indridason sich erlaubt, trotz der düsteren Begleitumstände hin und wieder witzig zu sein; etwa, wenn Kommissar Erlendur sich mit den Feinheiten der Grammatik beschäftigt oder eine Zeugin Probleme mit dem Juckreiz unterhalb ihrer für teures Geld erstandenen neuen Silikonbrüste hat.
Allerdings gelingt es dem Ex-Journalisten und Filmkritiker stets, diesen stellenweise aufflackernden Humor so auszubalancieren, dass er die Ernsthaftigkeit des Themas nie untergräbt oder ins Hintertreffen geraten lässt.
So beweist er auch mit diesem Buch, dass weder Action noch ein atemberaubender Showdown notwendig sind, um von Anfang an Spannung zu erzeugen und sie bis zum überraschenden Ende kontinuierlich zu halten. Und dass es möglich ist, über viel Düsteres zu schreiben und zu lesen – und sich dennoch das Prinzip Hoffnung zu bewahren und Schritt für Schritt einer Heilung entgegenzustreben.
Und wenn Erlendur und Eva Lind am Schluss Arm in Arm unter den Klängen einer unvorstellbar schönen Musik durch das Hotelfoyer nach Hause gehen, dann weiß man: Jetzt kann Weihnachten kommen!

Miss Sophie