Das Buch direkt bei Amazon bestellen Lionel Shriver
Wir müssen über Kevin reden

Originaltitel: We need to talk about Kevin
Aus dem Englischen von Gesine Strempel
List gebunden
ISBN 3-471-78679-1

Evas Sohn Kevin hat eine furchtbare Gewalttat begangen: In der Schule hat er mehrere Menschen getötet.
Von allen verurteilt und von jetzt an auf sich selbst gestellt, findet Eva den Mut, sich in aller Offenheit den quälenden Fragen auszusetzen: Hätte sie ihr Kind mehr lieben sollen? Hätte sie das Unglück verhindern können? Hätte sie ihre Ehe retten können?

Rezension:
Kann ein Mensch von Geburt an abgrundtief böse sein?
Lässt sich die unfassbare Tat eines Jugendlichen immer seiner Erziehung und seiner Umwelt anlasten?
Muss eine Mutter ihr Kind automatisch lieben?
Diese und mehr Fragen, über die sich ausgesprochen kontrovers diskutieren lässt, wirft der brillante Roman von Lionel Shriver auf, während er in Form von Briefen der Ich-Erzählerin Eva an ihren über alles geliebten Mann Franklin die Geschichte ihres Sohnes Kevin Khatchadourian vor dem Leser ausbreitet.

Anrührend, berührend, komisch und unheilvoll, so beginnt das Buch. Ja, unheilvoll – steckt doch hinter jeder der unbeschwerten Zeilen das Wissen (auch des Lesers, der ja den Klappentext kennt!) um jenen „Donnerstag“, der so vielen Menschen das Herz gebrochen hat.
Anders als andere Autoren lässt Shriver ihre fesselnde Geschichte jedoch nicht in einem unfassbaren Massenmord kulminieren, sondern beschäftigt sich von Anfang an mit der Frage nach dem Grund für die grauenvolle Tat.

Elegant bewegt sie sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit und lässt vor dem inneren Auge des Lesers das Bild aufsteigen eines fast schmerzhaft glücklichen Paares jenseits der dreißig.
Beruflich sind beide außerordentlich erfolgreich: Er als Locationscout für eine Werbeagentur, sie als Gründerin und Inhaberin eines Verlages für spezielle Low-Budget-Reiseführer.
Spät haben sie sich kennen gelernt: Der kraftstrotzende und typische Amerikaner, laut und fröhlich, ein Fels in der Brandung, mit dem man Spaß haben, stundenlang geistreiche und witzige Gespräche führen, lachen, lieben, essen, trinken, leben kann. Und die gebürtige Armenierin, der Vater noch vor ihrer Geburt im Krieg umgekommen, die Mutter durch ihre Agoraphobie ans Haus gefesselt, die vielleicht deswegen in allen Ländern der Welt unterwegs ist, scharfsinnig und -züngig und von grenzenloser Liebe zu ihrem Mann erfüllt.

Und nun bekommt diese Frau mit 37 Jahren ein Kind, das zwei Wochen zu spät das Licht der Welt erblickt. Die Wehen sind lang und schmerzhaft, nach der Geburt will der kleine Junge die Brust nicht nehmen, später wird er zum Schreikind.
Immer und immer wieder bemüht sich die Frau, eine Bindung zu diesem Sohn herzustellen, der von Anfang an vom Vater vergöttert wird und ihr immer häufiger als Ausbund an gezielter Bosheit scheint. Der Säugling terrorisiert seine Umwelt, das Kleinkind lässt seiner Zerstörungswut freien Lauf, der Schuljunge macht vor nichts Halt – nicht vor dem Eigentum anderer, nicht davor, diesen das Liebste zu nehmen, was sie haben, sobald er herausgefunden hat, was es ist.

Evas Schilderungen sind faszinierend und gleichzeitig unfassbar schrecklich, grauenvoll und unendlich traurig zugleich, zwischendurch strotzend von trockenem Humor, unwirklich und doch nur allzu nahe an der Realität – umso erstaunlicher, da Shriver selbst kinderlos ist.
Der Sog dieser Schreibe ist unglaublich – einerseits möchte der Leser weiterhin in den Erzählungen der Vergangenheit baden, als zumindest ein Teil der Welt noch in Ordnung war, manchmal … Andererseits rast der Blick mit Hochspannung und voller schauriger Erwartung durch die Seiten, um herauszufinden, was wirklich geschah und wie es dazu kam.
Doch das Fazit am Ende der mitreißenden 560 Seiten ist kein plattes „Täter sind meist Opfer und Schuld sind fast immer die Eltern“ – ebenso wenig wie die eindeutige Aussage, dass es Geschöpfe ohne Gefühle gibt, die ein Blutbad anrichten müssen, um sich selbst spüren zu können.
Denn irgendwie sind alle beteiligt an den Geschehnissen: Die Mutter, der das eigene Kind immer irgendwie fremd blieb. Der Vater, der ein ausschließlich positives Bild seines heiß ersehnten Sprösslings hatte. Lehrer, Nachbarn, Schulkameraden, die diesen überaus intelligenten und doch so distanzierten Jungen weder mochten noch verstanden. Der Täter selbst, erst 15 Jahre und 382 Tage alt, eiskalt und abgebrüht und gleichzeitig irgendwie bedauernswert, weil ihn nichts berührt …

Dieses Buch wird auch hierzulande – nachdem es via Mundpropaganda in Amerika und England Furore machte - für hitzige Diskussionen sorgen. Es trifft die Leser dort, wo es am meisten schmerzt, ohne jedoch irgendetwas mit dröger Betroffenheitsliteratur gemeinsam zu haben. Es liest sich wie ein Thriller, bleibt nachhaltig im Gedächtnis wie ein Tatsachenroman und ist doch „nur“ richtig gut gemachte Fiction. Eltern werden das Werk hassen – und lieben. Jugendliche entsetzt – und fasziniert sein. Kritiker werden den Titel in der Luft zerreißen – und über den grünen Klee loben. Alles ist möglich, nur eins nicht: Dieses Buch NICHT zu lesen!

Miss Sophie