Das Buch direkt bei Amazon bestellen Jo Nesbo Günther Frauenlob Maike Dörries
Leopard

Original: The King Maker
(8. Band Harry Hole)
Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries
Ullstein gebunden
ISBN 9783550087745

Hongkong:
Im Dunst der Garküchen und Drogenhöhlen dämmert einsam ein Mann vor sich hin. Kommissar Harry Hole ist am Ende, er hat alle Brücken hinter sich abgebrochen, die chinesische Mafia ist ihm auf den Fersen.
Gleichzeitig erschüttert Oslo eine Serie grotesk-grausamer Morde.

Die junge Kommissarin Kaja schafft es schließlich, Harry zurückzuholen.
Schon bald wird er immer tiefer in den Fall hineingezogen. Der Täter erweist sich als äußerst unberechenbar und intelligent. Er arbeitet mit einem perfiden Mordwerkzeug, das lautlos und quälend langsam tötet.
Die Spuren führen Harry von einer einsamen Hütte im norwegischen Hochgebirge bis nach Ruanda.
Als er dem Killer gegenübersteht, muss er eine übermenschliche Entscheidung treffen.

Rezension:
Nesbo ist ein großartiger Schreiber, das ist hinlänglich bekannt.
Und wie bei allen wirklich begabten Autoren nutzt sich die kraftvolle Ausdrucksweise, die Fähigkeit, den Leser mitten "auf die Zwölf" zu treffen, dort wo er es besonders spürt, auch nach dem x-ten Band einer Reihe noch lange nicht ab.
Da stimmt jeder Satz, jedes Bild, und sind auch 700 Seiten nicht zu viel.

Denn so ein "Harry Hole"-Roman steht ja nie für sich allein, kommt einfach nicht ohne Bezüge in die Vergangenheit aus (wenngleich sich dankenswerterweise sehr viel aus dem Kontext erschließt und die Lektüre daher auch für einen Neueinsteiger durchaus möglich und ergötzlich ist).

Alte Schulden, Konflikte, Probleme, die Beziehungen, in denen Hole zu seinen ehemaligen Kollegen und auch anderen Figuren aus früheren Romanen steht, lassen sich nicht ausklammern.
Schon allein deswegen nicht, weil sein Verhalten vielfach geprägt wird durch die Schuld, die er meint, auf sich geladen zu haben oder die ihm von anderen zugewiesen wird.

Aus vielen Zeilen schreien daher Verzweiflung, Schmerz, letzte verzweifelte Hoffnung, Resignation, aber auch grenzenlose Wut - und zwar nicht nur vom einen, wichtigsten Protagonisten!, die praktisch ohne Reibungsverluste auf den Leser übergehen.

Der allerdings muss eine Menge aushalten können ...
Gleich zu Anfang kommt eine Frau auf eine wirklich grausame Art und Weise mit einem mittelalterlich anmutenden Folterinstrument zu Tode, kurz darauf verliert eine andere buchstäblich den Kopf.
Und leider bleibt es nicht bei diesen Toten - es kommen noch einige mehr dazu, die ihr grauenvolles Ende in der Badewanne, unter einer Lawine oder in einem Vulkankrater finden, von Folterungen und Verstümmelungen ganz abgesehen.

Mittendrin steckt, Harry Hole, der geniale Ermittler, den seine Arbeit nicht nur das Privatleben, sondern auch die Familie gekostet hat und der sich, fast verständlicherweise, in die tröstlichen Arme eines vollständigen und dauerhaften Rauschzustandes geflüchtet hat, was er, nachdem er fürs Erste "clean" ist, zwischendurch auch immer wieder dann tut, wenn er wieder in einer Sackgasse angelangt scheint oder die eigene Einsamkeit und Ausweglosigkeit seiner Situation nicht mehr aushält.

Als sie ihn aus Asien zurückholen, will er nicht, wehrt sich mit aller Macht dagegen, wieder mit ins Boot geholt zu werden, kann aber seinem Schicksal im Endeffekt natürlich nicht entrinnen.
Dann ist er da, leckt Blut, stürzt sich in die Ermittlungen und nun darf er nicht, wird nach Strich und Faden behindert, gerät mitten in die Auseinandersetzung zwischen Kriminalpolizei und Kriminalamt, die beide bis aufs Messer darum kämpfen, wer jetzt und künftig bei Mordermittlungen das Sagen und den Segen des Justizministeriums hat.

Hin und her geht die Geschichte - erst erzielt er mit einer kleinen, geheimen, aber ungemein schlagfertigen Gruppe in kürzester Zeit sensationelle Erfolge, dann wird er ausgebootet und durch einen Maulwurf lahmgelegt.
Kurze Zeit später darf er aber doch wieder mitmischen - als Sündenbock soll er sein Gesicht und seinen Namen hergeben, was aber dann natürlich doch wieder in eine ganz andere Richtung läuft als von den Strippenziehern geplant.
Schließlich kommt es noch zur ganz direkten Konfrontation mit einem Nebenbuhler, den er nicht nur beruflich auszustechen droht ...

Denn als klar wird, was die Morde möglicherweise verbindet und ein prominentes Mitglied der Society ins Zentrum der Ermittlungen gerät, wird jedes Verhör, jede Durchsuchung und natürlich jede Verhaftung ein Politikum.
Aufgrund von Indizien falsch entschieden zu haben ist daher nachgerade fatal, vor allem für den aalglatten Karrieristen Bellman, der dem "Dezernat für Gewaltverbrechen" im allgemeinen und Harry im ganz besonderen das Leben schwer macht.

Der Roman besitzt eine ungeheuere Sogwirkung, denn immer schneller dreht sich das Karussell der Verdächtigen, Opfer und Motive.
Aus der Stadt geht es in die tief verschneiten Berge mit ihren unendlichen Weiten, bevor eine Spur nach Afrika den Helden mitten nach Ruanda führt.
Hole ist mal der Spielball der Mächtigen, dann wieder scheint ihn der Täter selbst als Gegenspieler auserkoren zu haben und stellt dem hochgewachsenen Ermittler gezielt Fallen.

Immer wieder wechseln sich ungemein grausame Szenen mit wirklich witzigen Einschüben ab - köstlich, wie Harry einen Verfolger auf der Herrentoilette abpasst und ihn nach erfolgter Befragung mit heruntergelassener Hose angekettet stehen lässt. Oder wie er wichtige Datenbankrecherchen von der Insassin einer Nervenklinik durchführen lässt - mit unglaublichen Ergebnissen, versteht sich.
Einstecken muss der geniale Polizist, dessen "10 Gebote" nach wie vor in Polizeikreisen ihre Anwendung finden, aber auch - nicht nur Prügel. Was er mit zusammengebissenen Zähnen tut, selbst wenn das Blut in Strömen fließt.
Doch kommt immer wieder auch seine weiche Seite zum Vorschein - im Umgang mit der kleinen Schwester, die zwar ein Downsyndrom hat, aber in ihrer erfrischenden Art alles andere als daran "leidet" oder bei den Gesprächen mit dem todkranken Vater, von dem er am liebsten "Geschichten von früher" hören möchte...

Überhaupt ist der Roman vor allem ein Lehrstück über Beziehungen. In der Familie, der Schule, dem Freundeskreis. Gewalt zwischen Ehegatten, sowie zwischen Eltern und Kindern, Manipulation, falsche und in ungute Kanäle geleitete Rücksichtnahme, geboren aus der Sehnsucht nach Liebe.
Bei den Kurzcharakteristiken, die Nesbo selbst den geringsten Nebenfiguren zuteil werden lässt, offenbart sich schnell, dass viele der Täter selbst in gewisser Weise Opfer sind. Woraus für den Leser schnell ein Wechselbad der Gefühle folgt: Mehr als eine der handelnden Personen ist nicht ausschließlich gut oder böse, sondern hat in ihrer Persönlichkeit und bei dem, was sie tut, einerseits zwar verachtenswerte Anteile, ist jedoch gleichzeitig charmant oder hilfsbereit. Oder einfach nur bedauernswert.
Harry ist der Held, daran gibt es keinen Zweifel - doch den Sieg, den er am Ende - zumindest auf den ersten Blick - davonträgt, muss er teuer bezahlen: Mit einer weiteren körperlichen Verstümmelung, die ihn äußerlich zum Gezeichneten macht. Und mit zusätzlichen Narben auf der Seele, für die es kein Pflaster gibt.
Dennoch schimmert ganz am Schluss die Hoffnung auf Heilung, Rettung oder zumindest Linderung durch - vielleicht im nächsten Band, dem nächsten Abenteuer dieses knallharten Burschen mit seinem überaus sensiblen Herzen.
Wünschen möchte man es ihm - vor allem aber dem Leser, der nichts Besseres tun kann, als sich mit einem "Bitte nicht stören"-Schild und dem 700-Seiten-starken Pageturner für einen geruhsamen Lesenachmittag und -abend zurückzuziehen.

Miss Sophie

 

Gastrezension(en):


Name: Doris Cybis
Email: doris.cybis@wuerth.no
Datum: 23.4.2013 (14:04)

nur ein Hinweis zur Korrektur des Originaltitels, der ist nämlich 'Panserhjerte' und es bedeutet Panzerherz. Viele Grüsse Doris