Das Buch direkt bei Amazon bestellen Martin Suter
Der Koch

Diogenes gebunden
ISBN 978-3-257-06739-2

Maravan, 33, tamilischer Asylbewerber, arbeitet als Hilfskraft in einem Zürcher Sternelokal, tief unter seinem Niveau.
Denn Maravan ist ein begnadeter, leidenschaftlicher Koch. In Sri Lanka hatte ihn seine Großtante in die Kochkunst eingeweiht, nicht zuletzt in die Geheimnisse der aphrodisischen Küche.
Als er gefeuert wird, ermutigt ihn seine Kollegin Andrea zu einem Deal der besonderen Art: einem gemeinsamen Catering für Liebesmenüs. Anfangs kochen sie für Paare, die eine Sexualtherapeutin vermittelt. Doch der Erfolg von ›Love Food‹ spricht sich herum, und eine viel zahlungskräftigere Klientel bekundet Interesse: Männer aus Politik und Wirtschaft - und deren Grauzonen.
Maravan hat Sorge, das Geschäft könne "unanständig" werden.
Und das wird es.
Doch er benötigt das Geld dringend, um seine Familie in Sri Lanka am Leben zu erhalten.

Rezension:
Vom Tellerwäscher zum Millionär ...
Eine Möglichkeit, die es vielleicht in den USA gibt, aber nicht in der kleinen, beschaulichen Schweiz und schon gar nicht im März 2008 für den Tamilen Maravan, der eine Fähigkeit besitzt, die mehr als Geld und Gold wert ist, aber leider nicht das Geschick, sie gewinnbringend zu vermarkten:
Der Asylbewerber mit der natürlichen Würde und Eleganz kocht wie ein junger Gott - doch damit nicht genug: der Genuss seiner Speisen beschert den Beteiligten im Anschluss unvergessliche Liebesstunden.

Zunächst allerdings kann er diese Fähigkeit aber nicht unter Beweis stellen, weiß nicht einmal, dass er sie besitzt.
Denn im "Chez Huwyler", dem Nobelrestaurant, in dem sich allabendlich die Crème de la Crème der internationalen Finanz- und Wirtschaftswelt, sowie allerhand lokale Prominenz einfindet, ist er das allerkleinste Rädchen im Getriebe, was ihm die anderen auch Tag für Tag bewusst machen.

So ist ihm Neid und Missgunst sicher, als Andrea, die hochgewachsene Kellnerin vor aller Ohren erklärt, sich von ihm in seiner kleinen Wohnung mit Hausaltar und Currybäumchen im Schlafzimmer bekochen lassen zu wollen. Und weil er sich dazu ungefragt einen Rotationsverdampfer ausborgt, wird er noch am selben Tag hinausgeworfen - ohne Arbeitszeugnis.

Doch das Essen, diese ayurvedische Meisterleistung, die ihn buchstäblich in Teufels Küche gebracht hat, ist gleichzeitig auch der Ausweg aus der Misere.
Denn Andrea, die Schweizerin, die aus einem Gefühl der Solidarität heraus, ebenfalls gekündigt hat - und nicht etwa, weil die beiden zwischenzeitlich ein Paar geworden wären, was sie nicht sind, macht dem stets auf äußerste Reinlichkeit bedachten Maravan einen Vorschlag: Einen Catering-Service, der sich auf aphrodisierende Menüs der Molekularküche spezialisiert.

Der junge Mann lässt sich ausschließlich darauf ein, weil die Familie in der Heimat seine Unterstützung braucht: für Essen, Medikamente für die kranke Schwester seiner Großmutter, die ihm schon als kleinem Buben alles beigebracht hat, was ein Koch wissen muss und dafür, den grade mal 14jährigen Lieblingsneffen aus den Klauen der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) zu befreien.
Bisher hatte er - zu seinem großen Nachteil innerhalb der tamilischen Gemeinschaft im Schweizer Exil - jeden Kontakt zu dieser radikalen Gruppierung vermieden, die ihren Forderungen nach einem unabhängigen Tamilenstaat mit Gewalt und oft auch dem Einsatz von Selbstmordkommandos Nachdruck verlieh.
Jetzt aber geht es um das Einzige, was ihm wichtig ist: Die Familie.
Also hilft Maravan mit dem was er kann - kochen, selbst wenn es ihn in einen Gewissenskonflikt stürzt - und dem was er hat - Geld, schwarz verdient, aber so üppig, dass er die geforderte "Unterstützung" leisten kann.

Doch Suter wäre nicht Suter, wenn er seinen Roman nur auf einer einzigen Ebene beließe:
Denn natürlich gibt es noch die Geschichte hinter der Geschichte, unter der Geschichte, um die Geschichte herum.
Diese wiederum hat mit der Wirtschaftskrise zu tun, mit ehrbaren Managern, die ihr Geld bei den Lehman Brothers und in isländischen Kronen angelegt hatten und nun versuchen müssen, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, bevor alles zu spät ist. Aber auch mit zwielichtigen Geschäftsleuten, windigen Anwälten, Vermittlern von Escort-Diensten und nicht zuletzt Waffenschiebern, denen die Empfänger ihrer Ware herzlich gleichgültig sind.

Und mittendrin der rechtschaffene Maravan, Sexkoch wider Willen, seine Geschäftspartnerin Andrea mit dem unsteten Leben und den hochfliegenden Träumen, Tamilin Sandana, die sich gegen ihre arrangierte Hochzeit wehrt und Makeda, die trotz ihres unmoralischen Berufes nicht gleichgültig geworden ist und auf Rache an denen sinnt, die ihrem eritreischen Volk aus wirtschaftlichen Gründen so viel angetan haben.

Am Ende ist aus dem Tellerwäscher kein Millionär geworden - aber ein durch Schmerzen und Schicksalsschläge gereifter Mann, vom fremdbestimmten Spüler zum Herrn seiner eigenen Entscheidungen, unabhängig davon wie sich diese auf sein künftiges Leben und das seiner Lieben auswirken werden.

Suter bildet gekonnt und wie stets mit Akribie, aber auch fein dosierter Ironie die Welt-Wirtschafts-Wirklichkeit dieser letzten beiden turbulenten Jahre ab, in denen sich auch der naivste Bürger nicht vor den Ereignissen verschließen konnte, die ihre Auswirkungen - von Kurzarbeit bis Insolvenz - in bald jeden Haushalt trugen.
Fast nebenbei beleuchtet er auch die weltpolitische Lage, verdeutlicht die Geschehnisse im ehemaligen Ceylon, das nicht nur mit den grauenvollen Aus- und Nachwirkungen des Bürgerkriegs mitsamt dem unmenschlichen Einsatz von Kindersoldaten zu kämpfen hat, sondern leider stets aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit rutscht, weil im entscheidenden Moment immer etwas Anderes die Schlagzeilen beherrscht.

Das trifft den Leser - und das soll es auch.
Ebenso wie ihn die liebevollen und ausführlichen Schilderungen der Küchen-Atmosphäre zutiefst berühren - ganz egal, ob er sich dadurch in Maravans Heimat katapultiert fühlt oder in die kleine Schweizer Zweizimmerwohnung, die der Duft nach Kokosöl, Curryblätter und Zimt selbst beim Hantieren mit Glaskolben und Destillierbrücke vom schnöden Chemielabor in eine geheimnisvolle Alchimistenstube verwandelt.
Sinnlich sind die Beschreibungen der Zubereitung und der Speisen - wie überaus vortrefflich, dass der umfangreiche Anhang mehr als ein Dutzend von Maravans Rezepten enthält - inspiriert und nachkochbar gemacht durch Heiko Antoniewicz.
Natürlich spart Suter auch nicht an kleinen, bösen Einschüben - etwa an der Stelle, als sich der Besitzer des Nobelrestaurants fürchterlich über einen der dubiosen Finanzberater empört, einen seiner Stammkunden, der bedauerlicherweise mitten im Lokal einen Herzinfarkt erleidet, mit allen Begleiterscheinungen - Erbrochenes an blütenweißer Hemdbrust des Tischnachbarn inklusive ...

Bleibt als Fazit nur die Erkenntnis, dass Martin Suter ein ganz Großer ist, dem es immer wieder aufs Neue gelingt, völlig unterschiedliche Geschichten mit der immer gleich bleibenden Brillanz zu Papier zu bringen.
Geschichten, die den Lesern allerbestes Kino im Kopf bieten - und diesmal auch ein Feuerwerk für Geruchs- und Geschmacksnerven.

Miss Sophie