Das Buch direkt bei Amazon bestellen Cory Doctorow Uwe-Michael Gutzschhahn
Little Brother

Original: Little Brother
Deutsch von Uwe-Michael Gutzschhahn
rororo TB ISBN 978-3-499-21550-6
(ab 14 Jahren)

Marcus, alias "w1n5t0n", ist 17, smart und ein begeisterter Gamer.
Als Terroristen die Oakland Bay Bridge in San Francisco in die Luft sprengen, befinden er und seine Freunde sich zur falschen Zeit am falschen Ort. Agenten der Sicherheitsbehörde halten sie für verdächtig und verschleppen sie auf eine geheime Insel, wo sie tagelang verhört, schikaniert und gedemütigt werden.
Als Marcus freikommt, hat sich San Francisco in einen Überwachungsstaat verwandelt. Jeder Bürger - ein potentieller Terrorist; Menschenrechte - zweitrangig; Freiheit - ein "Sicherheitsrisiko".
Marcus und seine Freunde können nicht akzeptieren, was geschehen ist - und beschließen, sich zu wehren. Mit Hilfe subversiver neuer Medien organisieren sie sich zu einer "Gamer-Guerilla".
Ihr Plan: Sabotage der staatlichen Überwachung.
Ihre Waffen: die Zukunftstechnologien.
Ihr Ziel: der Sturz der Regierung.

Rezension:
Marcus lebt in San Francisco und die Welt, in der er lebt, hat es in sich:
- Die (dank permanent eingespielter Werbung) kostenlosen Laptops, die jeder Schüler benutzen muss, protokollieren alles, was der Benutzer tut: Zeichnen auf, welche Seiten er besucht, speichern sämtliche Daten und durchsuchen seine E-Mails nach bestimmten Key-Words. Jeden Tag führt der Schulleiter Kontroll-Checks durch. - Auf den Korridoren der Schule befinden sich Gangerkennungskameras, die jeden Schüler an der Art, wie er sich bewegt, erkennen. So kann niemand (zumindest nicht ohne den Einsatz von ein paar Tricks) sich vom Schulgelände entfernen.
- Wer es doch tut, läuft ständig Gefahr, von Passanten oder Ladenbesitzern fotografiert zu werden und dann das eigene Konterfei auf Schulschwänzermeldeseiten im Internet wiederzufinden.

Aber der 17jährige kennt es nicht anders und schafft es immer wieder, gemeinsam mit seinen Freunden Darryl, Jolu und Vanessa, den unliebsamen Erwachsenen ein Schnippchen zu schlagen und sich ein ganz gutes Leben zu machen, das gekrönt wird vom gemeinsamen (natürlich verbotenen) Lieblings ARG "Harajuku Fun Madness" - einer Mischung aus Computerspiel und Schnitzeljagd.

Dann allerdings gibt es eine Riesen-Explosion, als eine der zentralen Brücken gesprengt wird, gefolgt von absolutem Chaos und Panik in der Stadt - und plötzlich ist nichts mehr wie es war!

Aus unerfindlichen Gründen zieht jemand Marcus und seinen Freunden einen Sack über den Kopf und entführt ihn in ein Militärlager, wo er tagelang eingesperrt, verhört, gedemütigt, erniedrigt und fast gebrochen wird, bevor man ihn ebenso unmotiviert wieder freilässt.

Ab dem Moment hat sich auch "draußen" alles verändert: An allen möglichen Stellen sind Kameras angebracht, in den Schulen ist die "freiwillige" (!) Videoüberwachung obligatorisch, jeder Schritt der Menschen wird überwacht, die Heimatschutzbehörde erstellt Frequenzhistogramme von Wörtern und Bewegungsprofile und befragt jeden, der sich untypisch oft an irgendeinem Ort aufgehalten hat. Auch Geldtransfers werden anhand der Abhebungen und Kreditkartenkäufe beobachtet - sprich: Man hat aus den Bewohnern der Stadt perfekte "gläserne Bürger" gemacht!
Da all dies unter dem Deckmantel der Terrorismus-Prävention geschieht, befürwortet ein Teil der Bevölkerung diese Überwachung im großen Stil sogar!

Marcus und seine Freunde allerdings gehören nicht dazu.
Die dem Teenager widerfahrene Behandlung, gekoppelt mit der Tatsache, dass sein bester Freund seit jener Nacht verschwunden ist, spornt ihn an, sich mit allen Mitteln gegen das System und die herrschenden Bedingungen aufzulehnen.

Um einer eventuellen Bespitzelung zu entgehen, schafft sich der Sohn einer britischen Mutter mit Hilfe einer alten X-Box, eines LCD-Projectors und seines Wissens um das Betriebssystems "Paranoid Linux" eine Kommunikationsmöglichkeit, die per Turnschuhnetzwerk unter zahlreichen Jugendlichen verteilt wird.
Gemeinsam starten sie den Gegenangriff.

Sie stiften Chaos, rufen zur offenen Revolte auf.
Erste Erfolge wiegen die Kids in Sicherheit - doch dann treten Spione auf den Plan und die Lage spitzt sich zu.
Die Schule ersetzt Lehrer mit einer freien Gesinnung, Marcus wird suspendiert, es gibt offene Spannungen unter den Jugendlichen.
Eine abenteuerliche Aktion soll die Wende bringen und scheint doch direkt mitten hinein in die Katastrophe zu führen...

Es ist eine abenteuerliche Geschichte von unglaublichem Sog, die sich der Blogger und glühender Verfechter des Datenschutzes Cory Doctorow da ausgedacht hat - und leider so wirklichkeitsnah, dass die mehr als zwei Dutzend Auszeichnungen, die das Buch seit seinem Erscheinen im Frühjahr 2008 eingeheimst hat, niemand verwundern.

Auf der einen Seite ist es einfach nur witzig und superspannend, wie eine Reihe Jugendlicher mit zu viel Zeit, aber jeder Menge Einfallsreichtum sämtliche Erwachsenen an der Nase herumführt.
Auf der anderen Seite nimmt Autor Doctorow durch seine eindringlichen Schilderungen von für normale Menschen völlig aberwitzigen Situationen seine Leser mit hinein in den schlimmsten nur vorstellbaren Horror. Wenn Marcus gedemütigt und völlig entwürdigend behandelt wird, dann fleht und schluchzt er, wie jeder es tun würde und ist kein unerschrockener Held, sondern nur ein zu einem armseligen Bündel Mensch reduzierter Haufen Angst.
Auch die anderen Jugendlichen, die sich gegen den Überwachungsstaat solidarisieren, sind keine Ritter ohne Furcht und Tadel. Manche knicken ein und steigen aus, andere sind von Anfang an Diener zweier Herren, wieder andere verkennen den Ernst der Lage und betrachten alles nur als großes Spiel.
Es gibt eine anrührende Liebesgeschichte und auch einen Handlungsstrang dessen großes Thema die Freundschaft ist, sowie das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern.

Einmal angefangen, legt man den Roman nicht mehr aus der Hand, will unbedingt wissen, wie die Sache ausgeht.
Das Ende wird keinen Leser kalt lassen und - genau wie der Inhalt - Anlass für zahlreiche Diskussionen sein.

Packend.
Unvergesslich.
Und alles andere als realitätsfern...

Miss Sophie