Das Buch direkt bei Amazon bestellen Elisabeth Herrmann
Der Schneegänger

Goldmann gebunden
(2. Band Sanela Beara)
ISBN 978-3-442-31386-0

Vier Jahre sind seit dem Verschwinden des kleinen Darijo vergangen. Damals forderten die Erpresser eine Million Lösegeld. Doch die Familie des Jungen ist arm. Sollte der Sohn des Multimillionärs Reinartz an seiner Stelle entführt werden?
Als im kältesten Winter seit Jahrzehnten das Skelett des Jungen entdeckt wird, muss die junge Polizistin Sanela Beara, inzwischen Studentin an der Polizeihochschule, dem Vater die schlimme Nachricht überbringen.
Die Begegnung mit dem gutaussehenden Biologen löst nicht nur Gefühle, sondern auch Zweifel in ihr aus. War es wirklich eine Entführung?
Alle Beteiligten verschanzen sich hinter einer Mauer des Schweigens. Für Sanela Beara gibt es nur eine Chance, Licht ins Dunkel zu bringen: Als verdeckte Ermittlerin nimmt sie die Rolle des Hausmädchens in der schwerreichen Familie Reinartz ein – denselben Platz, den auch Darijos Mutter Lida einst innehatte ...

Rezension:
Schon der Prolog lässt das Grauen und die Pein erahnen, die in diesem Roman auf die Leserschaft wartet.
Denn da ist Darko: Mit dem Gewehr in der Hand, Blut an den Händen, Tränen in den Augen und grenzenlosen Schmerz im Herzen, will, muss er töten.

Vier Jahre später kämpft Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring morgens um halb sechs gegen Eiseskälte, Restalkohol und das unangenehme Gefühl, dass er bei der Weihnachtsfeier, wenige Zeit zuvor, seiner Kollegin Angelika Rohwe besser nicht so nahe gekommen wäre.
Dieser Gedanke verfliegt schnell, als er dem Grund für seinen frühmorgendlichen Einsatz gegenübersteht: Dem Skelett eines Kindes. Ein Anblick, bei dem selbst die hartgesottenen Kollegen – ob Polizisten oder Mediziner – nicht ungerührt bleiben.

Als aus der Ahnung, es könne sich um einen der Abteilung wohlbekannten Fall handeln, Gewissheit wird, holt Gehring Sanela Beara ins Boot. Er verspricht sich vom Einsatz der Kroatin einen besseren Zugang zur Familie des damals vermissten Jungen, da diese ebenfalls aus der Balkanrepublik stammt.
Die Überraschung ist groß, als sich herausstellt, dass das Ehepaar nicht mehr in der ehemaligen Wohnung anzutreffen ist, ja sich sogar getrennt hat.

Der Vater, Darko, ein unberechenbarer, aufbrausender, gleichzeitig aber sehr fürsorglicher Typ, beschäftigt sich als Wildbiologe mit Wölfen und hat seinen Lebensmittelpunkt in die Forschungsstation verlegt.
Mutter Lida hingegen hat sich gesellschaftlich deutlich verbessert: Die ehemalige Hauswirtschafterin ist zur Gattin des Hochschuldozenten und Industriellen „aufgestiegen“, für den sie zum damaligen Zeitpunkt tätig war. Daher lebt sie nun direkt in der Villa des zweifachen Vaters und Selfmademannes, der es vom Glaser zum Millionär brachte.

Schon der erste Blick auf diese ungewöhnlichen Familienverhältnisse offenbart den Polizisten, dass hier noch vieles im Dunkeln liegt.
Der Hausherr ist mehr als zugeknöpft, seine beiden Söhne sind nicht sehr kooperativ, die schöne Nachbarstochter hat offenbar ganz eigene Pläne und auch in Darkos Umfeld – privat und beruflich - ist einiges sehr dubios.
Weswegen Sanela – die Königin der Alleingänge und permanente Außenseiterin, auch jetzt wieder, im Studium hat sie praktisch keine Freunde – beschließt, sich undercover in die Höhle des Löwen zu wagen, zumal ihr das eine oder andere Gerücht aus der Reihe der anderen Exil-Kroaten zu Ohren gekommen ist.

Weit gefehlt jedoch, würde man annehmen, dass Gehring ihre Initiative begrüßt. Die beiden liegen permanent im Clinch. Er findet das, was sie tut, anmaßend – sie wünscht sich, er könne endlich einmal über seinen Schatten springen und ihrem Bauchgefühl eine Chance geben.
Natürlich ist das nur die Oberfläche des Verhältnisses zwischen den beiden – denn insgeheim respektieren sie sich seit der gemeinsamen Aktion auf dem Dorf, an deren Ende fast so etwas wie väterliche Sorge (von Gehring) und Bewunderung für den erfahrenen Chef (von Sanela) stand. Aber eben nur fast.

(In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass die Lektüre des ersten Bandes – “Das Dorf der Mörder“ nicht zwingend nötig ist, um den vorliegenden Roman zu verstehen. Schöner ist es dennoch, diesen Ausnahmeroman zu kennen, weil er den Charakter der Figuren noch einmal auf besondere Weise deutlich macht. Und weil es einfach ein verdammt guter Roman ist ;-)

Es gibt zahlreiche Verdächtigungen, auch eine Festnahme und Sanela, die nicht locker lässt, immer tiefer gräbt, sich mit vollem Körpereinsatz das Vertrauen der Beteiligten erarbeitet, abei aber auch selbst eine Menge Gefühl investiert und einiges von sich preisgibt.
Was die ganze Sache zwangsläufig sehr persönlich werden lässt.
Am Ende ist alles ganz anders als gedacht und Sanela ist verletzt – an Körper und Seele. Ob und wie diese Wunde heilen wird, weiß man nicht, das wird die Zeit bringen … und der schon jetzt ersehnte Folgeband...

Die Reihe ist komplett anders als die, in deren Mittelpunkt Anwalt Joachim Vernau steht. Seine Schnodderigkeit und sein Wagemut sind in Teilen auch der Lebenserfahrung geschuldet.
Außerdem hat er Verbindungen, Freunde, Weggefährten von früher – ein breites Netzwerk, auf das er sich verlassen kann.
Sanela Beara hingegen verfügt zwar sicher durch ihre Geschichte als Halbwaise und Flüchtling über zahlreiche ganz spezielle Erfahrungen – doch ihre unangepasste Haltung, die Unüberlegtheit, mit der sie in manche Situationen hineinstolpert, aber auch die Chuzpe, mit der sie einfach „macht“, statt Pro- und Contra-Listen zu erstellen, und nicht zuletzt ihre zuweilen vorlaute, aber immer originelle Art, all diese Charaktereigenschaften entlarven sie als die junge Frau Anfang/Mitte zwanzig, die sie ist.
Und wiewohl man annehmen sollte, jemand in diesem Alter habe mehr Freunde als Haare auf dem Kopf, steht die Kroatin doch ganz oft – abgesehen von ihren Landsleuten – allein auf weiter Flur.

Beiden Protagonisten ist gemeinsam, dass sie ihre jeweilige Sache mit Herzblut vertreten.
Und in beiden Reihen brilliert die Autorin durch die intensive Sorgfalt, mit der sie sich ihren Themen nähert, um diese nach gründlicher Recherche den Lesenden nahe zu bringen.
Elisabeth Herrmann ist die Göttin der Symbiose aus Spannungsliteratur gewordenen Fakten, menschlichen Schicksalen und literarischer Qualität.

Miss Sophie