Das Buch direkt bei Amazon bestellen Ursula Poznanski Arno Strobel
Fremd

Wunderlich Klappenbroschur
ISBN 978-3-8052-5084-9

Vertrau oder stirb

Stell dir vor, du bist allein zu Haus. Plötzlich steht ein Mann vor dir. Er behauptet, dein Lebensgefährte zu sein.
Aber du hast keine Ahnung, wer er ist. Und nichts in deinem Zuhause deutet darauf hin, dass jemand bei dir wohnt.
Er redet auf dich ein, dass du doch bitte zur Vernunft kommen sollst. Du hast Angst. Und du verspürst diesen unwiderstehlichen Drang, dich zu wehren. Ein Messer zu nehmen.
Bist du verrückt geworden?

Stell dir vor, du kommst nach Hause, und deine Frau erkennt dich nicht. Sie hält dich für einen Einbrecher. Schlimmer noch, für einen Vergewaltiger.
Dabei willst du sie doch nur beschützen. Aber sie wehrt sich, sie verbarrikadiert sich. Behauptet, dich niemals zuvor gesehen zu haben. Sie hält dich offensichtlich für verrückt.
Bist du es womöglich?

Eine Frau. Ein Mann.
Je mehr sie die Situation zu verstehen versuchen, desto verwirrender wird sie. Bald müssen sie erkennen, dass sie in Gefahr sind. In tödlicher Gefahr.
Und es gibt nur eine Rettung: Sie müssen einander vertrauen...

Rezension:
Kennen Sie Fortsetzungsromane? Diese kapitelweise abgedruckten, nicht selten atemberaubenden Geschichten, die einen mit bebenden Fingern die entsprechende Seite der Tageszeitung aufschlagen ließen – manchmal überhaupt der einzige Grund für den Kauf. Denn nur so konnte man erfahren, wie es nach dem Cliffhanger des Vortages weiterging.

Der vorliegende Roman hat all diese Eigenschaften. Und ist gleichzeitig. So. Viel. Besser.

Da gibt es kein Vorgeplänkel, kein sanftes Hineingleiten in die Atmosphäre des Buches, sondern mit einem Paukenschlag wird der Lesende mitten hinein katapultiert.
Ab dann ist kein Halten mehr.
Während die beiden Protagonisten abwechselnd ihre Sicht der Dinge schildern, fühlt sich der Mensch am anderen Ende der Seiten als SEI er diese Joanna, dieser Erik, die hier völlig fassungslos vor dem jeweils anderen stehen.
Jeder schildert seine Wahrnehmung, seine Version so dermaßen glaubhaft, dass sich beim Lesen jedes Kapitels die Überzeugung verfestigt: „Die Ich-Erzählerin hat Recht, nur ihr kann ich glauben …“ - bis im nächsten Moment das Pendel zur anderen Seite ausschlägt und glasklar ist: „Der Ich-Erzähler spricht die Wahrheit, warum will sie ihm nicht vertrauen, ich tue es doch auch ...“

Und sehr lange ist nicht klar, ob eine Partei die andere wissentlich täuscht oder ob die australische Fotografin oder der Informatiker vielleicht doch ein gefährliches Geheimnis haben.

Was als Kammerspiel beginnt, zieht schnell weitere Kreise – es kommen Kollegen ins Spiel, die einigermaßen irritiert sind, eine augenscheinlich verwirrte, halb nackte Frau zu treffen, die sagt, den Mann an ihrer Seite nicht einmal ansatzweise zu kennen, während er gleichzeitig beteuert, sie aufrichtig zu lieben und offenbar auch gut kennt. Allerdings nicht gut genug, um ihre Zweifel zu zerstreuen.
Das gelingt auch Freundin Ela nicht, die jedes Wort von Erik bekräftigt, hat sie die beiden doch bekannt gemacht, seinerzeit. Sagt sie.

An diesem Punkt ist auch der hartgesottene Leser versucht, doch mal ganz schnell zum Ende zu blättern …, tut es aber natürlich nicht.
Und wird auch prompt dadurch belohnt, dass Jo nach und nach den Gedanken zulässt, tatsächlich unter einer Amnesie zu leiden. Ausgelöst vielleicht durch ein verdrängtes Trauma. Wer dafür verantwortlich sein könnte und was tatsächlich geschah … man weiß es nicht.

Doch für jeden Zug gibt es einen Gegenzug, für jeden Zeugen einen Gegenzeugen, der eben nicht bestätigt, dass sich die beiden kennen.
Zumal nun plötzlich von einem australischen Verlobten die Rede ist …

Kaum hat der Leser Zeit, diese Information zu verdauen, jagt ein Ereignis das nächste. Die Protagonisten geraten das erste Mal in Lebensgefahr, in den eigenen vier Wänden, was sie interessanterweise wieder näher zusammenbringt.
Trotz Nadine, Eriks Ex-Freundin und Noch-Kollegin, die nach wie vor an ihm hängt und das auch offen kundtut.

Jo ist hin- und hergerissen – komplett verstört, erschrickt vor sich selbst. Erst ganz langsam fasst sie Zutrauen zu Erik, ist ganz vorsichtig bereit, sich auf ihn einzulassen … Doch als das Misstrauen nicht mehr regiert, wird nicht automatisch alles gut – ganz im Gegenteil kommt alles noch viel schlimmer.
Und unwillkürlich fragt man sich: Wer wird hier zur Gefahr für wen?

Es folgt ein dramatischer Unfall, unschwer als Mordversuch zu erkennen, private und berufliche Schwierigkeiten, ein Attentat, das weite Kreise zieht, Drohungen, ein angeblicher Selbstmord, Verfolgungsjagden, bis hin zu einem atemberaubenden Showdown in einer Fabrikhalle.

Irgendwann wird klar, dass es hier um sehr viel mehr geht als um die beiden Hauptfiguren – doch wer der große Strippenzieher ist, lässt sich nicht so leicht feststellen.
Zu viele Personen sind beteiligt – ständig steht im Hintergrund die Frage: Wer ist Freund? Wer ist Feind? Wem kann man trauen? Wer ist ein Verräter?

Es geschehen aberwitzige Dinge – allein schon das Setting ist als Gedankenspiel ebenso unfassbar wie faszinierend: Ein Fremder im eigenen Haus zu sein, vom Lebenspartner nicht mehr erkannt zu werden. Dem entgegen steht die Vorstellung, den Aussagen eines völlig Fremden Glauben schenken zu sollen – ohne Beweise, nur untermauert von dem, was wieder andere Menschen behaupten.
Wie ausgeliefert man sich fühlen muss – in beiden Positionen.
Und wie grauenvoll, wenn man sich selbst zu allem Überfluss so fremd geworden ist, dass man nicht weiß, was man als nächstes tun wird …

Die zwei abwechselnd geschilderten Perspektiven in diesem beängstigenden, temporeichen Psychothriller verfügen über immenses Identifikationspotential … und zwar beide gleichermaßen. Permanent.
Auf diese Weise sorgen Poznanski und Strobel dafür, dass der Leser immer auf der Seite desjenigen ist, der gerade spricht.
Eine absolut grandiose Leistung – zwei Stimmen, die sich besser nicht ergänzen könnten, um eine Geschichte mit tausend Facetten zu erzählen.
Die sich glücklicherweise in einem Rutsch verschlingen lässt, ohne auf die Fortsetzung nach dem jeweiligen Cliffhanger warten zu müssen …

Miss Sophie