Das Buch direkt bei Amazon bestellen Gianrico Carofiglio Claudia Schmitt
Reise in die Nacht

Original: Testimone inconsapevole
(1. Band Guido Guerrieri)
Aus dem Italienischen von Claudia Schmitt
Goldmann gebunden
ISBN 3-442-31099-7

Bari, die Hauptstadt Apuliens, Tor Italiens zum Orient, Zentrum des Verbrechens - enge Gassen, vornehme Bürgerhäuser und ein Mittelmeerhafen:
Avvocato Guido Guerrieri, frisch geschieden und geschüttelt von einer tiefen Lebenskrise, übernimmt einen fast aussichtslosen Fall: Er verteidigt einen des Mordes angeklagten Immigranten aus dem Senegal, der ohne seine Hilfe verloren wäre. Es beginnt ein nervenzerreißender Kampf gegen rassistische Vorurteile, eine voreingenommene Justiz und eine erdrückende Last von Indizien …

Rezension:
Netter Typ das … Anwalt, 38 Jahre alt, einer der seine Frau betrügt und dessen Klienten Drogendealer, abgezockte Imbissbudenbesitzer für die Hygiene nicht nur in Punkto Rechtschreibung ein Fremdwort darstellt oder inkompetente Ärzte sind, deren Kunstfehler er vor Gericht elegant in bedauerliche Unglücksfälle verwandelt …
Kein Wunder also, dass seine Frau sich noch vor dem zweiten Kapitel von ihm scheiden lassen will …
Dann jedoch geschieht etwas, das untypisch ist – untypisch für einen Autor aus Italien, einem Land, in dem der Mann noch ein Mann ist – und untypisch auch für einen packenden Gerichtsthriller, wie wir ihn seit den legendären Grisham-Romanen schätzen gelernt haben: Der Ich-Erzähler verliert ganz langsam jede Bodenhaftung, leidet unter Panikattacken, schläft keine Nacht mehr als ein paar Stunden, kann nicht mehr Aufzug fahren, wird immer häufiger von Weinanfällen heimgesucht und vertritt seine Mandanten nur noch extrem unkonzentriert.
Ein Loser also – oder?
Die schöne Ägypterin, die den Ex-Freizeitboxer aufsucht, weil er ihren senegalesischen Freund verteidigen soll, der des Mordes an einem Kind beschuldigt ist, denkt das zumindest nicht.
Und während Protagonist Guerrieri sich in diesen Fall hineinkniet, der schon von Anfang an komplett aussichtslos scheint, erlebt der Enddreißiger, der so gut wie alles falsch gemacht hat, was man falsch machen kann, eine weitere Metamorphose.
Langsam, aber stetig lässt er seine Ängste hinter sich, öffnet sich, beginnt wieder zu leben und sogar eine zarte neue Liebe steht im Raum.
Gleichzeitig kämpft er wie ein Terrier um die Freiheit des schwarzafrikanischen Grundschullehrers, der vehement bestreitet, das Kind entführt und getötet zu haben.
Der Roman kulminiert in einem Plädoyer, so ergreifend und packend, dass man gleichzeitig weinen und übers ganze Gesicht grinsen möchte, ob so viel einleuchtenden Schlussfolgerungen.
Gianrico Carofiglio, der auch im „echten Leben“ schon so manchen Gerichtssaal von innen sah, hat mit seinem Debütroman nicht nur das italienische Leserpublikum von der Straße begeistert, sondern auch die Kritiker. Mal zynisch, mal direkt und dann wieder unglaublich ergreifend lenkt er den Blick auf eine Realität, in der es so viel mehr gibt als nur schwarz oder weiß. Er entlarvt durch seine schonungslosen Schilderungen aber nicht nur all die Scheinheiligkeiten der „arrivierten“ Freiberufler, die nicht nur in Italien die Großstädte bevölkern, sondern auch das, was sich Tag für Tag in vielen Amtsstuben abspielt, wenn es darum geht, schnell einen Schuldigen für ein grausames Verbrechen zu finden.
Sein Held ist alles andere als perfekt – auch nach seiner Wandlung gibt es durchaus dubiose Mandanten, von denen er sich zuweilen sogar Hilfestellung leisten lässt. Und auch die anderen Figuren – allen voran die Ex-Alkoholikerin Margherita – haben ihre ganz eigenen Dämonen, die sie bekämpfen müssen.
Das Beste aber ist: Carofiglio gelingt es, völlig ohne Autoverfolgungsjagden und Killern, die in finsteren Ecken warten, durchgängig Spannung zu schaffen und aufrechtzuerhalten; rund um einen unverwechselbaren Protagonisten, den man sich unbedingt merken sollte!

Miss Sophie