Das Buch direkt bei Amazon bestellen Joanne K. Rowling Susanne Aeckerle Marion Balkenhol
Ein plötzlicher Todesfall

Original: The Casual Vacancy
Deutsch von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
Carlsen gebunden
ISBN 978-3-551-58888-3

Als Barry Fairbrother mit Anfang vierzig plötzlich stirbt, sind die Einwohner von Pagford geschockt. Denn auf den ersten Blick ist die englische Kleinstadt mit ihrem hübschen Marktplatz und der alten Kirche ein verträumtes und friedliches Idyll, dem Aufregung fremd ist. Doch der Schein trügt.
Hinter der malerischen Fassade liegt die Stadt im Krieg. Krieg zwischen Arm und Reich, zwischen Kindern und ihren Eltern, zwischen Frauen und ihren Ehemännern, zwischen Lehrern und Schülern.

Rezension:
Barry Fairbrother ist ein toller Typ:
Der kleine, bärtige Mann hat sich aus einfachen Verhältnissen hochgearbeitet und ist mittlerweile ein hoch geachtetes Mitglied in seiner kleinen, englischen Gemeinde, deren größter Schmerz das mangelnde Stadtrecht ist.
Mit Frau und vier Kindern zwischen 12 und 18 Jahren lebt der Leiter der Bankfiliale in einem schönen Haus und engagiert sich unermüdlich für das Gemeinwohl.
Ganz besonders hat es ihm die Gesamtschule angetan, deren 1200 Schülerinnen und Schüler nicht alle das Glück haben, aus behüteten Verhältnissen zu kommen. Für sie setzt er sich vor allem dadurch ein, dass er eine weibliche Rudermannschaft gründet und trainiert.

Doch Barry, der Gutmensch, hat nicht nur Freunde - wie Anwalt Gavin, Ärztin Parminder oder das Ehepaar Wall, beide im Schuldienst tätig, er als stellvertretender Schulleiter, sie als Beratungslehrerin.

Vor allem Howard Mollison, der fettleibige Feinkostladenbesitzer und Vorsitzender des Gemeinderats, und dessen Familie sind dem 44jährigen alles andere als wohlgesonnen.
Grund ist die Tatsache, dass Fairbrother vehement für den Verbleib der Sozialsiedlung "Fields" im Verwaltungsbezirk Pagford kämpft, während Mollison und seine Anhänger die finanzielle Verantwortung für die Betonsiedlung und ihre problematischen Bewohner lieber heute als morgen an die 25 Minuten entfernte Kreisstadt Yarvil abgäbe.

Kurz bevor diese Entscheidung konkret zur Abstimmung kommt, stirbt Barry eines natürlichen Todes.
Die Wahl seines Nachfolgers allerdings ist eine hochbrisante Angelegenheit, in der alle Beteiligten mit harten Bandagen kämpfen.

Nicht zuletzt sind darin auch eine Reihe Jugendlicher verwickelt.
Die Söhne und Töchter der potentiellen Kandidaten und ihre Freunde werden in eine Sache hineingezogen, die plötzlich eine enorme Eigendynamik entwickelt. Dabei hätten die Sechzehnjährigen wahrlich genügend eigene Probleme mit Identitätsfindung, Leistungsdruck, dem Aufwallen der Hormone und ersten Erfahrungen mit Sex, Alkohol und Drogen.

Andrew Price etwa leidet unter seinem gewalttätigen Vater, der seine prollige Herkunft absichtlich nicht verleugnet, obwohl er mittlerweile im Management einer Druckerei arbeitet.
Stuart Wall, auch genannt "Fats" wiederum drangsaliert seinerseits nicht nur die Mitschüler mit Gemeinheiten, sondern schreckt auch nicht davor zurück, bei jeder Gelegenheit seine Eltern bloßzustellen.
Die "Neue", Gaia Bawden, hasst den hübschen Ort mit seinen farblich abgestimmten Blumenarrangements am Marktplatz praktisch vom ersten Tag an, und das nicht nur, weil ihre Mutter, eine Sozialarbeiterin, nur wegen eines Mannes dorthin gezogen ist. Allerdings schert sich das gut aussehende Mädchen wenig um die Kommentare und Reaktionen der anderen - ganz im Gegensatz zu Sukhvinder Jawanda, Tochter einer pakistanischen Ärztefamilie, die in jeder Hinsicht die Erwartungen ihrer Eltern enttäuscht.
Sie ist nicht schlau, sie ist nicht schön und schon gar nicht beliebt.
Schlau ist auch die letzte der fünf Jugendlichen nicht, Krystal Weedon. Die Tochter einer drogensüchtigen Mutter allerdings ist clever und fürchtet sich vor niemandem. So lässt sie sich zwar von praktisch jedem befummeln, aber noch lange nicht herumkommandieren.

Diese Gruppe, zusammen mit zahlreichen Erwachsenen, bildet den Cast von "Ein plötzlicher Todesfall" - was auch so ziemlich die einzige Gemeinsamkeit mit den "Harry Potter"-Geschichten der Erfolgsautorin ist.

Denn abgesehen davon, dass Magie so gar keine Rolle spielt, sind auch die Charaktere alles andere als zauberhaft.
Fast alle von ihnen sind gebrochen - mit zerstörten Hoffnungen und Träumen. Durch das Leben, die Umstände, eine Schwangerschaft zur falschen Zeit oder die Welt, in die sie hineingeboren wurden.
Paare streiten sich, Eltern und Kinder liegen im Clinch, Niedertracht und Heimtücke bestimmen immer wieder das Bild.

Das Schlimme daran: Praktisch alle Protagonisten wollen nicht so sein, wie sie sind. Doch sie können nicht aus ihrer Haut, die Fassade, die sie errichtet haben, schreibt ihnen vor, wie sie sich zu verhalten haben.
Alle machen sich gegenseitig kaputt und praktisch niemand bekommt, was er oder sie sich erhofft - an Liebe, Unterstützung, Anerkennung.

Aber genau darin liegt die Stärke dieses Romans, der eine griechische Tragödie in Reinkultur ist: Es handelt sich nicht um eine belanglose kleine Geschichte in bester "Miss-Marple-Tradition", sondern um eine bitterböse Sozialstudie.

"Casual Vacancy" - der englische Originaltitel des Buches ist der Verwaltungssprache entlehnt und bezeichnet die Tatsache, dass durch den Tod eines Mitglieds ein Sitz im Gemeinderat frei wird.

Joanne K. Rowling erklärt im Interview, dass sie diesen Titel aus mehr als einem Grund gewählt hat: "In erster Linie erscheint mir der Tod selbst als größte plötzliche Vakanz, denn er tritt oft ohne Fanfaren ein und schafft ein nicht zu füllendes Vakuum. Mir war auch bewusst, dass alle meine Figuren in ihrem Leben Mängel und Unzulänglichkeiten haben, die sie auf unterschiedliche Weise auszufüllen versuchen: durch Essen, Trinken, Drogen, Phantasien oder rebellisches Verhalten."

Die Autorin hat das einzige getan, was in ihrer Situation möglich war:
Sie hat eine Geschichte geschrieben, die sich extrem von den Büchern unterscheidet, die ihren großen Erfolg begründeten.
Und sie hat gleichzeitig ihr Talent zur Anwendung gebracht, Charaktere entstehen zu lassen, die in jedem Satz lebendig und vielschichtig sind.

"Ein plötzlicher Todesfall" ist kein gewöhnlicher Krimi, sondern ein großartiges Psychogramm und ein Gesellschaftroman, der unter die Haut geht.

Miss Sophie